Predigt vom 19.03.2023 in der Kreuzkirche Bayreuth zu Jes. 54,7-10

Liebe Gemeinde,

Ich möchte heute mal zwei Allerweltsweisheiten als Hinführung zum Predigttext nutzen. Die eine: ›Man bekommt nichts geschenkt!‹ Und die andere: ›Hilf dir selber, dann hilft dir Gott!“ Haben Sie auch schon mal gehört oder? Und was haben Sie dazu gedacht?

»Man bekommt nichts geschenkt.« Stimmt eigentlich, oder nicht? Geht man in ein Geschäft, will man etwas haben, dann wird uns dafür Geld abverlangt. Zur Zeit sogar ziemlich viel. Als ich kürzlich unseren Wocheneinkauf machte hat das am Ende 170 € gekostet. Der Wagen war nicht voll. Und ich fand es fast schon bezeichnend, dass die Kassiererin zu mir sagte: „Stimmt das wirklich?“ und dann hat sie alles nochmal überprüft, ob sie nicht versehentlich etwas falsch gescannt hatte. Ja, teuer ist das Leben geworden. Man bekommt nichts geschenkt. Heute weniger denn je zuvor. Und sollten wir wirklich einmal in einem Laden etwas günstig bekommen, dann werden wir gleich misstrauisch. Wenn diese Hose so billig ist, fast geschenkt, dann liegt es wohl daran, dass hier zweitklassiges Material verwendet wurde. Ein württembergischer Weinbauer und Kirchenvorstand erzählte mir einmal: als er eine Sorte Wein die Flasche für 7 € verkaufen wollte, lief das gar nicht. Er hat den Preis dann versuchsweise auf 12 € gesetzt und der Verkauf zog rasant an. So ticken viele: Was etwas wert ist, muss auch etwas teurer sein. Man bekommt nichts geschenkt oder?

Und dann die andere Feststellung: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.« Von Jugend an sind wir auf unsere beiden Beine gestellt worden, damit wir selbst laufen, nicht damit wir uns tragen lassen. Wir haben einen Beruf gelernt, damit wir selbstständig unseren Lebensunterhalt verdienen. Wir helfen uns selbst, so haben wir es gelernt. Jemand anderes um Hilfe fragen, fällt doch immer wieder schwer.

Und doch: beide Sätze, so oft sie auch gesagt oder gedacht werden, sie sind grundverkehrt. Sie sind zu Ende gedacht sogar eine Gotteslästerung.

Vieles im Leben – ja das Entscheidende bekommen wir nur geschenkt: Haben Sie sich das Leben selbst gegeben? Haben Sie sich ihre Begabungen und Talente selbst geschenkt? Haben Sie zuerst Gott geliebt oder war es nicht viel mehr so, dass Gott sie zuerst geliebt hat und sie auf diese Liebe Gottes geantwortet haben? Das Leben, das Vertrauen der Menschen, unsere Begabungen, und vor allem die Vergebung und die Treue Gottes. Alles geschenkt! Nichts davon können wir uns selbst verdienen. Wir können es nur umsonst empfangen.

Und wir wissen auch nur zu gut um Lebenslagen, in denen wir uns selbst nicht mehr helfen können. Da muss uns geholfen werden. Wenn ich an meinen schweren Autounfall im Jahr 2004 denke, da brauchte ich einen Notarzt und erfahrene Rettungskräfte, die mich sorgsam aus dem völlig zerstörten Auto geborgen haben und dann weiter versorgt haben. Und dann lag es vor allem an der Barmherzigkeit Gottes, dass ich bis heute leben darf, heiraten und eine Familie gründen und meinen Beruf weiter ausüben durfte bis auf den heutigen Tag.

Machen wir nun den Schritt hin zu unserem Predigttext aus dem Alten Testament. Der Prophet Jesaja hat den Juden in Babylon bemerkenswerte Sätze zugerufen.

In unserem Predigttext sind Verheißungen erhalten, die wohl vielen von uns schon zum Trost geworden sind. Jesaja schreibt über Gott:

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
9 Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.
10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

Anhand von drei Punkten möchte ich mit Ihnen diesen Bibeltext erschließen:

  1. 1. In der Krise die Gnade erleben
  2. 2. In Jesus die Gnade erfahren
  3. 3. Heute die Gnade ergreifen

1. In der Krise die Gnade erleben

Die Israeliten, denen diese Worte galten, waren in einer verzweifelten Lage. Ein unmenschlich grausamer Krieg hatte die Häuser zerstört, das Land vernichtet, die Wälder verbrannt. Viele Menschen wurden getötet und schließlich das restliche Volk in die Verbannung geführt. Dieser Marsch durch die Wüste war allen, die ihn überlebt hatten, unvergesslich. Glühende Hitze, endlose Märsche, die Peitschen der Antreiber, die Schreie der zurückgebliebenen Sterbenden. Und dann in der Fremde. Kein Besitz, kein Recht, noch nicht einmal die Sprache kannten sie. Einfach unvorstellbar. Oder heutzutage schrecklicherweise doch wieder vorstellbar? Man will es kaum glauben! Es sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie!

Bei den Juden kam aber noch etwas Anderes hinzu. Sie meinten, Gott kann doch so etwas bei seinem eigenen, auserwählten Volk nicht zulassen. Entweder gibt es keinen Gott, oder aber Gott hat sich von seinem Volk im Zorn abgewendet. Beide Gedanken waren für die Juden unerträglich. Beide Gedanken verstärkten ihre Qualen nur noch und waren eine große Anfechtung. Ich denke, wir können das gut nachvollziehen und stehen auch immer wieder in der Gefahr, so zu denken.

Die Israeliten waren am Ende, geistlich und psychisch. Und vielleicht auch körperlich. Alles drei kann ja auch zusammenhängen. In dieser Lage, als sie so an Gott litten und viele sich von ihm absagten und andere Götter ausprobierten, da berief eben dieser Gott einen Propheten, den er in dem fremden Lande Babylon sprechen ließ: Jawohl, ihr habt recht, ihr Juden, ich habe mich im Zorn von euch abgewandt. Und dieser Zorn war begründet, denn ihr habt die fremden Götter mir vorgezogen, ihr habt meinen Bund gebrochen! Das spricht der Herr.

Wenn wir einen Bund, einen Vertrag brechen, dann haben wir die Folgen zu tragen. Haben wir auf Raten ein neues Auto gekauft, sind das Auto und die bereits gezahlten Raten bei Vertragsbruch verloren, für immer weg.

Vertragsbruch hat Folgen. Ganz ähnlich ging es den Israeliten. Am Berg Sinai hat Gott mit ihnen einen Vertrag, einen Bund geschlossen. Aber nun waren sie längst vertragsbrüchig geworden. Da musste Gott reagieren.

Der Prophet muss im Namen Gottes eines klarstellen: Wenn sich die Israeliten nun in der babylonischen Gefangenschaft finden, dann haben sie es sich selbst zuzuschreiben. Nicht immer die Schuld auf andere oder gar auf Gott schieben! Nein, auch mal erkennen: Da bin ich selbst schuld, dass es mir so dreckig geht. Das ist gewiss nicht immer so. Nicht, dass wir das falsch verstehen. Wir sind gewiss nicht immer an den schweren Wegen schuld, die wir geführt werden. Ganz bestimmt nicht! Gott kann auch ganz andere Pläne mit uns haben. Ein paar Beispiele: Gott schlägt eine Tür zu, durch die wir gehen wollten, und verhindert die Umsetzung unserer Pläne. Wir empfinden es als Strafe, aber in Wirklichkeit ist es Gottes Liebe, um uns zu schützen.
Ein Mensch stirbt nach unserem Verständnis viel zu früh.  Wir empfinden es als Strafe oder als fehlende Hilfe Gottes, aber möglicherweise hat Gott diesen Menschen vor sehr viel Leid späteren Leid bewahrt oder einfach schon in seinem Reich eine Aufgabe für ihn.
Oder: Es läuft alles gut im Leben: Wir empfinden es als Geschenk Gottes, aber es kann auch sein, dass Gott uns alleine lässt und uns hochmütig werden lässt und in die Irre laufen lässt, damit wir dann erkennen, dass wir ihn brauchen. Aber wir können nicht alles erklären. Deshalb sollten wir immer vorsichtig sein mit schnellen Deutungen. Wenige Kapitel weiter in Jes. 55,8-9 steht: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege.“ Wir können uns in unseren Fragen immer wieder nur Gott zuwenden. Und auch wirklich ernstnehmen, wie der Text hier weitergeht.

Denn der Prophet bleibt beim Gesagten nicht stehen: Gott war zornig, so sagt er weiter, aber er bleibt nicht zornig. Weil Gott von Natur aus gütig ist, hat er sich euch wieder zugewandt. Der Prophet gebraucht dabei ein Wort, das in unserer Zeit nicht mehr so geläufig ist, das Wort Gnade: Gott ist euch gnädig! Aber jeder Israelit hörte dabei sofort eine klare Bedeutung. Wenn einem jungen Paar ein Kind geschenkt wurde, dann nahm in Israel der Mann den neugeborenen Säugling auf den Arm und erklärte ihn zu seinem Kind. Dafür benutzte er das gleiche Wort »Gnade«. Gnade ist also, wenn man als Kind angenommen wird.

In der Psychologie spielt heute das Wort »annehmen« eine große Rolle. Man weiß, dass Menschen, die sich nicht angenommen fühlen, seelisch krank werden. Gnade bedeutet, in eine Familie aufgenommen zu werden, in ihren Schutz, in ihre Versorgung, in ihre Liebe. Gnade, das ist Gemeinschaft haben, nicht mehr einsam sein. Das alles hörte der Israelit bei dem Wort »Gnade«.

In der Krise Gnade erleben, hieß unser erster Punkt. In der Krise als Kind angenommen sein. Das durften die Israeliten erfahren.

2. In Jesus die Gnade erfahren

In dieser Situation, im fernen Babylon, wagt der Prophet von einem Bund der Gnade zu sprechen, der vor undenklicher Zeit einmal mit Noah geschlossen worden ist und der Israel immer noch galt. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.

Aber gilt dieser Bund auch für uns heute, für die Gemeinde Jesu? Ein Vertrag, der einmal von Gott geschlossen wurde, ist unauflösbar. Er wird höchstens erweitert, verfeinert, präzisiert.

Wir sehen in der Geschichte Israels die verschiedenen Präzisionen. Den Bund Gottes mit Abraham; den Bund Gottes mit seinem Volk nach seiner wunderbaren Errettung am Schilfmeer; den Bund mit David und die Verheißung eines Nachkommens.

Und schließlich: die große Erweiterung, sodass Gottes Bund nun nicht mehr zu präzisieren ist. Jetzt ist es ein Bund mit der ganzen Menschheit. Durch Jesus hat ihn Gott festgeschrieben.

Dieser neue Bund ist für die ersten Christen so wichtig, dass sie nach ihm ihr wichtigstes Buch benannt haben, das Neue Testament. Testament heißt nichts anderes als Bund. Und was bedeutet dieser neue Bund?

Der neue Bund bedeutet einmal, dass Gott nur für eine begrenzte Zeit zornig war. Doch dieser Zorn hat sich über Jesus am Kreuz entladen. Deswegen zeigt Gott uns wieder und immer wieder sein liebevoll zugewandtes Angesicht. Nun gilt uns seine ewige Güte, dass er unser Erlöser ist. Wir wissen um Jesus, unseren Erlöser. Seine liebevolle Zuwendung, seine Güte ist uns durch sein Leiden und Sterben so handgreiflich geworden, dass man sie nicht übersehen kann. Er, der doch keine Schuld hatte, er ging für uns in den Gerichtssaal, ging für uns zur Folter, ließ sich für uns verhöhnen, ließ sich für uns aus der Stadt hinaustreiben, schwer beladen mit einem Balkenkreuz, ließ sich für uns eiserne Nägel durch Hände und Beine schlagen, starb für uns den Tod am Kreuz.

Und damit keiner den Prozess und die Todesstrafe Jesu missverstehen kann, damit keiner sagen kann: »Es hat schon so den Richtigen erwischt, Jesus war ein Aufrührer, ein politischer Messias, ein antirömischer Fanatiker«, darum hat ihn Gott auferweckt und damit sein unschuldiges Leiden und Sterben bestätigt und versiegelt.

Kreuz und Auferstehung, Karfreitag und Ostern stehen seitdem so unerschütterlich fest. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Eher fallen Berge oder Hügel, eher wanken Weltreiche und Welten, dieser Friedensbund von Kreuz und Auferstehung Christi, dieser friedenstiftende und friedensetzende Bund Christi ist endgültig und unauflösbar. Ja, in Jesus ist die Gnade voll und ganz erfahrbar.

3. Heute die Gnade ergreifen

Was sollen wir nun tun? Wie begegnen wir dieser Gnade Gottes in Jesus? Gar nichts müssen wir tun. Es liegt wohl in unserem Menschsein, dass wir meinen, immer etwas leisten zu müssen. Aber Gott hat doch hier alles getan. Er hat uns schon geholfen. Was brauchen wir uns da noch selbst zu helfen? Das einzige was wir tun können – aber auch tun müssen – ist: Umkehren und Umlernen! Umkehren von Wegen, die Gott nicht gefallen. Die Gottes Willen widersprechen. Und umlernen:

Lernen wir um, dass hier bei Jesus Christus die Allerweltsregel eben nicht gilt: Man bekommt nichts geschenkt! In ihm bekommen wir tatsächlich etwas umsonst. In ihm bekommen wir alles umsonst. In ihm bekommen wir das Leben für Zeit und Ewigkeit gratis. In dem Wort gratis steckt das Wort gratia drin und das heißt eben Gnade.

Jesus schenkt uns wahres, ewiges Leben, völlig umsonst, ohne Hintergedanken. Einfach geschenkt.

Ja, würden wir uns selbst bei Gott etwas verdienen wollen, so wären wir verloren. Aber weil Gott in Jesus uns alles schenkt, darum sind wir reich.

Und lernen wir um, dass auch die zweite Allerweltsregel bei Jesus nicht mehr gilt: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.« Gott hat uns geholfen, lange, bevor wir etwas tun konnten, noch bevor wir lebten. Gott hat uns geholfen, wo wir gar nichts hätten tun können. Ja, würden wir selbst mithelfen, unsere Rettung würde gewiss scheitern.

Aber weil Gott in Jesus unsere einzige Hilfe ist, darum sind wir gerettet. Durch Jesus ist uns alles geschenkt. Durch Jesus ist uns ganz geholfen! Das dürfen wir heute neu begreifen – und das dürfen wir mit ganzem Herzen ergreifen. Wir hören zum Schluss nochmal auf die tröstlichen Worte unseres Predigttextes und nehmen sie in die kommende Woche mit:

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

Amen.

Verfasser: Pfr. Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/41168; E-Mail: friedemann.wenzke@elkb.de