Predigt vom 19.02.2023, Kreuzkirche Bayreuth; Text: 1. Kor. 13, 1-13

Liebe Gemeinde,

eine alte jüdische Geschichte erzählt von einem Mann, der eines Tages mit seinem Jungen zum Rabbi kommt und ihn um Hilfe bittet. „Mein Junge will einfach nicht folgen und lernen. Ich habe meine liebe Not mir ihm! Bitte Rabbi, kannst DU ihn nicht mal ermahnen?“ „Lass ihn eine Weile bei mir und hole ihn heute Abend wieder ab, ich will mit ihm reden.“ Der Vater geht und der Rabbi nimmt den Jungen in den Arm, drückt ihn, herzt ihn und zeigt ihm den ganzen Tag viel Wärme, Zuneigung und Vertrauen.

Als am Abend der Vater kommt, um seinen Jungen abzuholen, sagt der Rabbi zu ihm: „Ich hoffe, es wird besser mit seinem Folgen und seinem Lernen. Ich habe ihm ordentlich ins Gewissen geredet!“

Wenn Menschen uns ins Gewissen reden, klingt das so bedrohlich und beängstigend. Und oft erreicht es keine Besserung, nur Trotz und Dickköpfigkeit. Wenn Gott uns ins Gewissen redet, dann redet er in unser tiefstes Wesen hinein mit seiner ganzen Liebe. Er kennt uns, er liebt uns. Und wenn wir uns so geliebt wissen, wird es in der Regel besser mit uns. Weil wir diese Liebe nicht betrüben wollen. Moralische Appelle hingegen verhallen oft ungehört.

In dieser Haltung als von Gott Geliebte wollen wir auf den heutigen Predigttext hören. Er ist sehr bekannt, hört auf den Namen: das Hohelied der Liebe und wird oft bei Hochzeiten als Trauspruch gewählt: 1. Kor. 13, 1-13:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.
3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze.
4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf,
5 sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu,
6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit;
7 sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.
8 Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.
9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.
10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.
12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.
13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie dieses Hohelied der Liebe hören: mich drückt es beim ersten Hören eher nieder. Selbst wenn ich alles zusammenkratze, was da an Liebe bei mir zu sein scheint, bleibt es ein kleines Häuflein an Freundlichkeiten und Liebesdiensten neben dem großen Haufen an Lieblosigkeit und Eigenliebe in meinem Leben. Irgendwie kann ich an diesem Text nur scheitern. Was nun? Soll ich aufgeben, weil’s ja doch nichts wird? Oder soll ich mich zu denen gesellen, die hart und bitter geworden sind und sagen: „Das sind schöne fromme Worte. Aber machen wir uns doch nichts vor! Das wirkliche Leben ist anders. Du musst kämpfen, du musst dich wehren, du darfst dir nichts gefallen lassen, sonst gehst du unter.“ Soll so die Lösung für mein Scheitern an der Liebe aussehen?

Aber dann hätte ich die Briefe des Paulus kräftig missverstanden. „Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat“, schreibt er einmal im Römerbrief. Ach so ist das! Nicht ich muss zuerst alle Vorleistungen erfüllen, sondern Christus tut das für mich. ER hat uns geliebt. Wir kommen mit einem Haufen unerfüllter Forderungen, aber er hat uns geliebt und seine Liebe hat nicht aufgehört. Sie hört auch nicht auf. Auch dann nicht, wenn wir die Liebe immer wieder schuldig bleiben und versagen.

Die Liebe Christi setzt nicht erst dann ein, wenn meine Liebe mindestens mit „ausreichend“ zensiert ist. Er hat keine Zulassungsbeschränkung. Nein! Die Liebe des Herrn ist auch dann für mich da, wenn meine Liebe mangelhaft oder rundherum ungenügend ist. Nichts kann uns scheiden von seiner Liebe hat Paulus im Römerbrief mal gesagt.

Es geht Paulus jetzt in diesem Kapitel des 1. Korintherbriefs vor allem darum, dass diese Liebe Gottes mit der wir geliebt sind, auch in unserem Leben zum Ausdruck kommt.

Paulus macht mit diesen Versen deutlich: Liebe ist nicht alles. Auch in unserem Leben nicht. Aber er weiß auch umgekehrt: Ohne Liebe ist alles nichts!

Unser Predigttext ist Weltliteratur, einer der bewegendsten und bekanntesten Bibelstellen. Da erklingen schöne, aber auch sehr kritische Worte. Wir Menschen sind stolz auf unser Können, auf unser Wissen und auf unsere Leistungen. Wir Menschen sind stolz auf unser soziales Verhalten. Die Werbeindustrie macht es uns vor: "Tu Gutes und rede darüber!" Das stille Kämmerlein aus der Bergpredigt, dass die linke Hand nicht wissen soll, was die rechte Hand an guten Taten verrichtet: diese Einstellung ist OUT! Es gehört zum guten Ton, dass man sich aufbläht, doch die Liebe bläht sich nicht auf! Die Kritik unseres Hohen Liedes der Liebe lautet: Eure sozialen und religiösen Verdienste und Leistungen in allen Ehren, aber sie sind wertlos, wenn sie ohne Liebe geschehen!

In Korinth haben damals einige Leute mit ihren Fähigkeiten und Leistungen herumgeprahlt und sich dabei aufgebläht. Wir kennen das vielleicht aus eigener Erfahrung: da gibt es ganz talentierte Menschen. Was sie schaffen, ist bewundernswert! Aber menschlich sind sie schwierig. Sie fordern immer mehr Anerkennung, wollen sich gewürdigt fühlen. Und sind am Ende ihres Lebens oft verbittert, weil sie sich zu wenig geehrt fühlen. Ihr Fehler war, dass sie zeit ihres Lebens nur sich und ihre Leistung gesehen haben. Oder es gibt Menschen – vielleicht auch durchaus gläubige Menschen – die bewegen und organisieren viel. Aber es kommt auch leicht zu Spannungen. Denn bei allem Einsatz für die Sache spürt man, wie es ihnen letztlich darum geht, selber im Mittelpunkt zu stehen. Auch wir Christen sind von diesen menschlichen Regungen nicht frei, wir geben ihnen vielleicht nur ein frommes Gewand. Da redet man von besonders begnadeten Predigern oder Seelsorgern. Ich habe keine Zweifel, dass es solche Menschen gab und bis heute gibt. Und ich bin selbst unendlich dankbar, dass ich Menschen kennengelernt habe, die mir durch ihre Verkündigung den Weg des Glaubens gewiesen haben. Aber es gibt auch in der christlichen Szene einen Starkult, der mich manchmal nachdenklich stimmt. Diesen Starkult gibt es in der christlichen Musik zum Teil oder auch im Blick auf Vorzeigegemeinden oder Prediger. Da fahren manche viele Kilometer zu irgendeinem besonders begabten Prediger oder in besondere Gemeinden. Und wenn man dann hinter die Kulissen schaut, sieht man doch so manches, was nicht stimmt. Da haben manche Prediger im Internet Zehntausende von Klicks, aber man kennt sie gar nicht persönlich, weiß gar nicht, was sich für ein Mensch hinter diesem Prediger verbirgt und was das für eine Gemeinde ist. Man denkt dabei oft: Die andere Gemeinde ist ja sowieso immer besser als die eigene. Und es stimmt: Natürlich kann es da Dinge geben, die besser laufen als hier. Aber täuschen wir uns nicht. Es ist einfach so: die perfekte Gemeinde gibt es nicht. Und wenn es sie überhaupt gibt auf Gottes Erdboden, dann wird sie spätestens dann unperfekt, wenn Du und ich dabei bin. Neben diesen scheinbar religiösen Stars habe ich schon Menschen in der Kirche kennengelernt, die starten keine augenfällige Aktionen, stellen auch in der frommen Szene gar nicht viel dar und sind doch unendlich wertvoll. Sie machen ihre Arbeit eher im Verborgenen, sind Menschen der eher leisen und besonnenen Töne und ihre Arbeit zieht dennoch Kreise. Diese Menschen sind so etwas wie der Kitt in der christlichen Gemeinschaft, weil sie ihr Leben für die Nöte anderer öffnen, zuhören, sich mitfreuen und mitleiden, andere im Gebet begleiten und kurz gesagt: das alles in der Liebe Christi tun.

Es stimmt schon, was Paulus sagt: Liebe ist nicht alles, aber ohne Liebe ist alles nichts.

In meiner vorherigen Gemeinde hatten wir phasenweise eine Kleingruppe, die in Abständen immer wieder über die weitere Entwicklung der Gemeinde nachgedacht hat. Das war sehr wertvoll. Dabei ist uns einmal aufgegangen, dass es auch eine Versuchung der Selbstzufriedenheit gibt. Gerade dann, wenn andere uns von außen sagen: „Na, bei euch läuft doch viel“, besteht die Gefahr, dass sich so eine satte Frömmigkeit einschleicht und man sich selbst genug wird. Dass vielleicht gar keine Liebe mehr zu den Menschen da ist, die zwar im Ort wohnen, aber noch nicht den Zugang zum Glauben gefunden haben. Aber was ist unser ganzes kirchliches Angebot, wenn es nicht von dieser Liebe Gottes durchdrungen ist? Dann sind meine Predigten nur noch billiges Wortgeklingel, unser Singen Geplärr in Gottes Ohren und unser Beten frommer Anstrich. Ich weiß: Das sind scharfe Worte und es fällt mir wahrhaft nicht leicht, diese auszusprechen, aber Paulus macht es uns ganz klar: Liebe ist nicht alles, aber ohne Liebe ist alles nichts!

Nur wo wir für andere leben, leben wir in den Spuren von Jesus Christus und seiner Liebe. Und nur dort, wo wir auch dem frommen Egoismus den Abschied geben und im Geben und Empfangen mit anderen leben, erfahren wir, was Leben wirklich ist.

So fordern uns die Sätze des Paulus an vielen Stellen sehr heraus. Manchem kann man noch ganz gut zustimmen: Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu. Das geht ja alles noch, obwohl es uns auch schon deutlich an unsere Grenzen führt. Aber dann: „die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ Auch das noch! Kann ich denn das? Soll ich denn das wirklich? Alles glauben, alles erdulden, alles tragen? Auch die Lüge und das Unrecht?

In den letzten Jahren vor meinem Stellenantritt hier in Bayreuth habe ich eine Frau mit ihren Kindern seelsorgerlich begleitet, deren Mann zunehmend alkoholkrank war. Was bedeutet denn hier Liebe im Sinne Gottes? Es gab gläubige Menschen in der Gemeinde, die haben gesagt, dass die Frau alles zu ertragen hat, was ihr alkoholisierter Mann ihr antat. Das sei dann wirklich christliche Liebe und Nächstenliebe. Je länger ich die Sache begleitet habe, umso deutlicher wurde mir allerdings, dass dies speziell im Fall einer Suchterkrankung nicht einfach der Weg ist. Um den Schein nach außen zu wahren, hat die Ehefrau lange Zeit versucht, alles an Missständen aufzufangen und die Defizite selbst auszufüllen. Alle ihre eigenen Interessen hat sie mehr und mehr zurückgestellt. In der Suchttherapie nennt man dieses Verhalten Co- Abhängigkeit. Man unterstützt mit dem eigenen, auch fürsorglich gemeinten Verhalten letztlich die Sucht des anderen. Im Laufe vieler Gespräche und auch in Kontakt mit dem behandelnden Arzt konnte ich der Frau, die eine Christin ist, deutlich machen, dass Liebe in diesem Fall etwas anderes bedeutet: nämlich klare Worte der Wahrheit an den Mann zu richten, ihn die Folgen seines Handelns schonungslos aufzuzeigen: nämlich das Zugrundegehen der Familie und der Ehe. Das war ein schwerer und harter Schritt für die Frau und ich konnte ihn ihr nicht abnehmen. Aber sie hat ihn getan. Die nächste Zeit hat die Ehefrau im Alltag nicht mehr alle Versäumnisse des Mannes aufgearbeitet. Der Leidensdruck für den betroffenen Ehemann wurde im Laufe der Zeit immer größer, bis er sich schließlich in eine Therapie begab. Das waren angespannte Wochen bis dahin und ich wusste selbst lange nicht, wie das ausgeht. Aber mir wurde überdeutlich: Liebe im Sinne Jesu heißt in bestimmten Fällen eben auch, Widerstand zu leisten, Grenzen und Folgen wahrhaftig aufzuzeigen.

Warum erzähle ich das? Weil ich meine, daran wird deutlich, was Jesus meint: Einerseits braucht der Suchkranke ein klares Nein zu seinem Verhalten und zugleich braucht er jemanden, der ihm zeigt, dass hinter diesem Nein zu seiner Sucht ein Ja zu seiner Person steht. Dass da jemand ist, der ihn nicht aufgibt, trotz allem an eine Zukunft mit ihm glaubt und für ihn hofft. Das ist eine wichtige Basis für eine Heilung. Und genau das ist die Liebe, von der Paulus spricht. Für die Liebe gibt es keine hoffnungslosen Fälle.

Paulus meint mit Liebe eben nicht nur die Lust des Augenblicks oder das flüchtige Gefühl großer Sympathie. Dafür hat die griechische Sprache das Wort Eros, also die körperliche Liebe und gegenseitig gelebte Sexualität. Paulus meint mit Liebe eben auch nicht nur die freundschaftliche Liebe, im griechischen philia genannt, die den anderen mag. Sondern er meint die Agape. Agape, das ist die Liebe, die offen ist für andere mit ihren Nöten und mit ihren Gaben. Agape ist Wertschätzung einer Person, die auch den problematischen Seiten standhält. Agape ist das Ja zum anderen als von Gott geschaffenen und geliebten Mitmenschen. Und damit wird ja deutlich, womit ich begonnen habe: Es geht Paulus nicht darum, dass wir das Höchstmaß an Mitmenschlichkeit aus uns herauspressen. Es geht darum, dass wir geschenkte Liebe Gottes weitergeben können. Liebe ist immer Geschenk. Wenn nicht, dann ist sie Berechnung und das ist über kurz oder lang das Ende jeder Liebe. Ich kann einen anderen Menschen lieben, weil ich selbst Liebe erfahren habe, hoffentlich schon in der Kindheit. Ich kann andere annehmen, weil Gott mich angenommen hat. Ich kann andere wertschätzen, weil Gott mir sagt: „Du bist in meinen Augen wertgeachtet und herrlich und ich habe dich lieb“. Wenn Gott uns solche großen Sätze zuspricht, können wir denn dann noch lieblos mit dem anderen umgehen? Wer sind wir denn, dass wir den anderen richten und uns über ihn stellen? Was wissen wir denn über den anderen und seine Lebenssituation? Warum sind wir denn oft so schnell mit unserem Urteil, vielleicht auch in unserer Gemeinde?

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: mich treibt dieser Text ins Gebet. Einerseits ins Dankgebet: dass Gott mich mit so einer großen Liebe liebt, dass er sich so zu mir stellt, dass ich in seinen Augen so wertvoll bin. Das kann ich eigentlich gar nicht fassen und deshalb ist es das Beste, wenn ich dafür einfach danke. Und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und die andere Form des Gebets ist die Bitte: „Herr, schenke mir doch, dass ich die Liebe, mit der ich von dir geliebt bin, auch an andere weitergeben kann. Ich selbst kann das nicht. Aber Du kannst es mir doch mehr und mehr schenken.“ Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/ 41168; E-Mail: friedemann.wenzke@elkb.de