Predigt: Jesaja 40,1-11. 3. Advent 11.12.2022 - Kreuzkirche Bayreuth

Liebe Gemeinde,

Wir haben ja viele kleine Kinder derzeit in der Gemeinde. Das ist sehr schön! Oder Sie haben ein kleines Enkelkind oder gar Urenkelkind. Dann fällt es Ihnen leicht, sich ein kleines Kind vorzustellen, das bitterlich weint, schluchzt und schreit. Die Tränen laufen ihm übers Gesicht. Es hat sich schon ganz heiser geschrien. Nachdem die Mutter sein Schreien gehört hat, kommt sie, nimmt es in ihre Arme, spricht ihm beruhigende Worte zu, streichelt ihm sachte über den Kopf und tröstet es. Mit einem Taschentuch wischt sie ihm sanft die Tränen aus dem Gesicht. Schließlich nimmt die Mutter das Kind an ihre Brust und es beginnt hastig zu trinken. Es wird immer ruhiger. Am Ende schläft es – geborgen bei seiner Mutter – friedlich und getrost ein.

Sind wir Menschen nicht manchmal wie ein solch kleines Kind: Es gibt Momente – manchmal auch lange Zeiten – da ist es uns wirklich zum Schreien. Es scheint alles hoffnungslos und aussichtslos. Wir bekommen unser Leben oder unsere Situation einfach nicht unter die Füße. Wie viel Tränen weinen Menschen jeden Tag! Bei vielen ist das Maß längst voll! Der »Krug voller Tränen« ist voll.

In einer solchen Situation befanden sich die Menschen aus dem Volk Gottes im 6. Jahrhundert vor Christus. Es war wirklich zum Heulen! Sie waren ein geschlagenes Volk. Die Babylonier hatten ihre Hauptstadt Jerusalem und das geistlich-religiöse Zentrum, den Tempel, zerstört und das Land verheert. Viele waren tot. Die Überlebenden wurden gefangen genommen und nach Babylon, in den heutigen Irak, deportiert. Lange Zeit lebten sie dort. Doch in dieser aussichtslosen und trostlosen Lage hört das Volk Gottes die Stimme Gottes. Und nicht nur die Menschen damals, auch wir heute Morgen an diesem 3. Advent hören Gottes Stimme. Gottes Trostwort aus Jesaja 40,1–11:

Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.
3 Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!
4 Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden.
5 denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet.
6 Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde.
7 Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk!
8 Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber adas Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.
9 Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott;
10 siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her.
11 Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.

Liebe Gemeinde,
Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Ja, die Menschen damals brauchten in ihrer trostlosen Lage wirklich Trost! Und auch wir brauchen diesen Trost Gottes. Wir alle sind trostbedürftig, weil wir alle am einen oder andern Punkt einem kleinen schreienden Kind gleichen, dem etwas fehlt. Wie oft leiden wir unter etwas, was in unserem Leben passiert ist. Manchmal liegt das schon lange zurück, aber es holt uns immer wieder ein. Etwa eine Verletzung aus der Kindheit, wenn z. B. jemand durch seine Eltern oder durch Lehrer ungerecht behandelt, benachteiligt oder gar geschlagen wurde. Oder ich denke an Kriegserlebnisse der älteren Generation: Da haben sich die Bilder von Gewalt und Vergewaltigung, die Bilder von Tod und Trauer oft tief in die Seele eingegraben. Viele mussten ihre Heimat, Hab und Gut, zurücklassen und waren auf der Flucht – und das hat in ihrem Leben Spuren hinterlassen. So tiefe Spuren, dass es jetzt Jahrzehnte später infolge des Ukrainekriegs wieder hochkommt und schmerzt und- so erlebe ich das- immer wieder auch seelsorgerliche Begleitung braucht. Andere leiden unter dem Verlust eines geliebten Menschen. Wieder andere macht der ewige Streit in der eigenen Familie oder mit dem Ehepartner fertig.

Da hilft dann keine billige Vertröstung, kein »Kopf hoch, das wird schon wieder!«. Nein, da schreit unsere Seele nach Heil und Heilung. Da brauchen wir Trost, echten Trost! Ein gebrochener Arm wird eingegipst. Gegen Halsschmerzen und anderes gibt es Medikamente, und eine offene Wunde wird mit Salbe behandelt und verbunden. Seelische Schmerzen und Wunden dagegen sind nicht so offen sichtbar und auch nicht so einfach zu behandeln. Und doch können sie sehr wehtun. Und wenn sie nicht behandelt werden, hat das oft schlimme Folgen. Ich bin überzeugt: Wenn unserer Seele etwas fehlt, dann sind das oft schlimmere Schmerzen als wenn unserem Körper etwas fehlt.

Das, was uns in unserer Seele weh tut, wirkt sich nicht selten auch auf unseren Körper aus. Mediziner reden in diesem Zusammenhang von psychosomatischen Erkrankungen. Wir sagen nicht umsonst: »Das schnürt mir die Kehle zu.« oder »Das schlägt mir auf den Magen«; »Das geht mir an die Nieren« oder »Das hat mir einen Stich ins Herz gegeben«. Wenn das so ist, dann fehlt uns etwas; dann ist es uns wirklich zum Schreien und zum Heulen. Dann sind wir im wahrsten Sinn des Wortes »nicht ganz bei Trost«. Wie ein kleines schreiendes Kind, brauchen wir jemanden, der uns tröstet!

Und seht, da ist wirklich einer, der uns tröstet; einer, der uns echten Trost geben möchte. Heute am 3. Advent hören wir seine Stimme – Gottes Stimme: Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Gott weiß, wie sehr wir Trost brauchen – echten Trost! Seinen Trost! An anderer Stelle sagt er uns durch Jesaja: »Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet«. Der allmächtige Gott, der Schöpfer Himmels und der Erden, vergleicht sich mit einer liebevollen Mutter, die ihr schreiendes Kind hört, sich ihm zuwendet und es tröstet.

Das heißt doch, dass Gott sagt: Ihr seid für mich wie Kinder für eine Mutter. Ich bin für euch da und ich sorge mich um euch. Ich höre euer Schreien. Ich sehe eure Tränen. Ich weiß, was euch fehlt. Ich kenne eure Trostlosigkeit, ich kenne euren Unfrieden, eure inneren Verletzungen, Enttäuschungen und Verwundungen. Ich weiß, was euch ganz aktuell Not macht. Aber seht: In dem allem bin ich für euch da.

Ich bin für euch da – auch in der tiefsten Tiefe eures Lebens, wo ihr mich und die Welt nicht mehr versteht. Ihr seid bei mir geborgen. Ich umschließe euch mit meinen Liebesarmen und drücke euch an mein Herz. Am Kreuz von Jesus, habe ich es festgemacht: In der Liebe von Jesus, die sich für euch ins Leiden und in den Tod gegeben hat, könnt ihr die Herztöne meiner Liebe zu euch hören – so wie ein kleines Kind den Herzschlag seiner Mutter. An meinem Herzen könnt ihr zur Ruhe kommen. An meinem Herzen kann eure Seele gesund werden, heil werden. Bei mir findet ihr echten Frieden und echten Trost. Bei mir seid ihr »bei Trost«, beim »Gott allen Trostes«.

Liebe Gemeinde, wenn Gott uns tröstet, dann ist das kein billiger Trost, dann vertröstet er uns nicht. Nein, dann ist das echter Trost und echte Ermutigung. Denn der Trost Gottes ist begründet in seinem Handeln – in seinem Handeln an seinem Volk damals in der Gefangenschaft und in seinem Handeln an uns heute in den Lebenssituationen, in denen wir gefangen sind.

In unserem Text heißt es weiter: Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünde. Kennen Sie das: wenn wir in eine schwierige, ausweglose Situation geraten, dann ist das schlimm. Aber wenn wir dann merken, dass wir uns da selbst hineinmanövriert haben, dann ist das oft noch schlimmer. Das Volk Gottes hatte sich die Suppe der babylonischen Gefangenschaft selbst eingebrockt. Sie hatten sich, anstatt auf Gott, auf die Hilfe der Großmacht Ägypten verlassen. »Mein Volk tut eine zweifache Sünde. Mich, die lebendige Quelle verlassen sie; und machen sich Zisternen, die doch rissig sind und kein Wasser geben«, so sagt es ihnen Gott durch Jeremia. Alles hatten sie verloren durch ihre Schuld. Doch jetzt lässt Gott seinem Volk sagen: Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist.

Selbstverschuldete Sackgassen: Da gibt es einen heftigen Streit. Im Zorn fallen böse Worte. Und dann ist Funkstille – Tage, Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre. Man geht sich aus dem Weg und redet nicht mehr miteinander. Und man weiß genau: Ich bin schuldig geworden. Ich habe jemandem Unrecht getan. Doch dann eines Tages plötzlich ein Anruf. Die betreffende Person ist am Apparat und dann fällt der befreiende Satz: »Ich habe dir vergeben! Komm, lass uns den alten Streit begraben. Lass uns neu miteinander anfangen.« Da fällt einem ein Stein vom Herzen. Das lässt aufatmen!

Genau so kam damals der Anruf Gottes an das Volk Israel: Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist. Jetzt wussten sie: Gott hat uns vergeben! Die alte Schuld braucht uns nicht mehr zu quälen. Gott hat uns nicht aufgegeben. Er fängt neu mit uns an!

Durch Jesus Christus gilt das auch uns: Gott hat uns vergeben. Die Knechtschaft der Sünde hat ein Ende. Unsere Schuld darf uns nicht mehr quälen, knechten und belasten. Wir sind frei – befreit durch den einen, der zum Knecht wurde; befreit durch den, der sich gefangen nehmen ließ und für uns in den Tod gegangen ist. «Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt«.

Gott schenke es, dass wir das nicht nur wissen, sondern dass es uns im Herzen berührt; dass wir es glauben können: Mit ist vergeben!

Durch die heilende Kraft des Heiligen Geistes kann Jesus alte Wunden und Verletzungen heilen. Wir dürfen zu ihm kommen und ihm sagen, was uns schmerzt und worunter wir leiden. Und wir dürfen ganz neu anfangen.

Schauen wir weiter auf den Bibeltext: Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet.

Heute dürfen wir mit den Gefangenen des Volkes Gottes damals den Trost Gottes hören: Es gibt einen Weg für dich! Es gibt einen Ausweg für dich. Ich, der HERR, bahne ihn! Ich bahne mir einen Weg zu dir – Berge und Abgründe sind für mich kein Hindernis. Wie ein Rettungsmann, der sich zu den Verschütteten eines Grubenunglücks vorarbeitet, um sie zu befreien, so komme ich zu dir, um dir einen Weg in die Freiheit zu eröffnen.

Damals wurde das ganz konkret. Gott hatte beschlossen: Ich werde meinem Volk einen Weg zurück in die Heimat schaffen und sie zurückführen. Davon redet Jesaja. Genauer: Er redet von einem himmlischen Straßenbauprojekt: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Dieser Befehl gilt nicht den damaligen Gefangenen, auch wenn man das so hören könnte: es sind ja sprachlich Imperative: Aber die Israeliten konnten sich ja damals nicht selbst helfen – nach dem Motto »hilf dir selbst, dann hilft dir Gott«. Gott selbst hat einen Ausweg geschaffen. Er gebrauchte damals den Perserkönig Darius, der die babylonische Großmacht besiegte und dem Volk Gottes die Rückkehr in die Heimat ermöglichte.

Uns gilt: »Seid unverzagt, ihr habet die Hilfe vor der Tür; der eure Herzen labet und tröstet, steht allhier«. Das Straßenbauprojekt Gottes bekam in der Geburt von Jesus Christus den zweiten und entscheidenden Bauabschnitt. In Jesus Christus hat sich Gott selbst einen Weg zu uns gebahnt. Gottes Sohn hat sich zu uns vorgearbeitet, um uns aus unserer Grube, in der wir gefangen sind, zu
befreien. Manchmal sehen wir nichts davon – und das Warten und Bangen scheint endlos. Und doch dürfen wir immer wieder sehen und erleben, wie Jesus eingreift und einen Weg bahnt, wo wir keinen Ausweg sehen. Jesus lässt uns nicht im Stich! Auch und gerade dann, wenn wir den Eindruck haben, verlassen zu sein, ist Jesus bei uns – im Leben, im Sterben und auch über den Tod hinaus. Er kennt Wege, von denen wir noch nichts ahnen. Keine noch so ausweglose Situation, in der wir gefangen sind, bleibt bei ihm ohne Ausweg. Das ist unser Trost!

Daran hielt ein Dietrich Bonhoeffer sogar in der Todeszelle fest, wenn er schrieb: »Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag, Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag« Selbst im Tod ist und bleibt er unser Trost und führt uns aus dem Tod hinein in die Ewigkeit!

Und schließlich kündigt Jesaja am Schluss unseres Predigttextes Gottes Handeln in einem wunderbaren Bild an: Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.

Damals hat Gott sein Volk, das in der Fremde, in der Gefangenschaft, leben musste, gesammelt wie ein Hirte seine Schafe und er hat sie nach Hause getragen und sie auf dem Weg, den er gebahnt hat, zurück in die Heimat geführt.

Und heute weidet Jesus, der gute Hirte, uns, seine Gemeinde. Er sammelt uns aus allen Völkern und Nationen. Wie ein Hirte die jungen schwachen Lämmer, so trägt er uns im Bausch seines Gewandes; er trägt uns aus der Gottesferne zurück nach Hause zu Gott, dem Vater. Und er führt uns auf unserem Lebensweg, auch dort wo wir keine Kraft mehr haben und nur noch schwarz sehen. Gott schenke uns die Gewissheit, dass dieser gute Hirte bei uns ist und wir voller Vertrauen beten können: »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich«. Was für ein Trost! Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott, denn ich trage und führe euch!

Liebe Gemeinde,

solange wir leben, werden wir immer wieder einem kleinen schreienden, weinenden Kind gleichen, das Trost braucht. Dann dürfen wir uns immer wieder daran erinnern, wessen Kinder wir sind. Kinder des Vaters im Himmel. In seinen Armen sind wir geborgen und an seinem Herzen finden wir Trost.

Und wir dürfen miteinander auf den Tag hoffen und vertrauen, an dem wir mit allen Kindern Gottes für immer getröstet und heil werden. Dann »wird Gott abwischen alle Tränen von unseren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und der auf dem Thron saß sprach: Siehe ich mache alles neu«

Amen.