Predigt am 23.10.2022, Markus 2, 1-12

Wir hören auf den Predigttext, wie er uns für den heutigen Sonntag vorgegeben ist: Markusevangelium Kapitel 2, V. 1-12:

Und nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.
2 Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.
4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
6 Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:
7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?
9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden - sprach er zu dem Gelähmten:
11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Drei Fragen stellt dieser Bibeltext:

1. Wieviel ist es mir wert, dass Menschen zu Jesus kommen?
2. Was ist mein Motto: Hauptsache gesund oder Hauptsache Vergebung?
3. Wie stehe ich zu Jesus? 

1. Wieviel ist es mir wert, dass Menschen zu Jesus kommen?

Ich stelle mir vor, wie die Massen durch die Stadt strömen, als sie mitbekommen, dass Jesus da ist. Und da kommt einem der vier Freunde die Idee: „Mensch wir könnten doch unseren kranken Kumpel auch zu Jesus bringen. Der kann ihm sicher helfen.“ Er zögert nicht lange, macht sich auf den Weg zu drei weiteren Freunden und gemeinsam gehen sie in das Stadtviertel, wo die Armen und Kranken wohnen. Da liegt ihr Freund und kann schon lange nicht mehr laufen. Er ist gelähmt und sicher auch innerlich traurig und betrübt. „Du, Jesus ist in der Stadt, sollen wir dich dem mal vorstellen? Vielleicht kann dich der gesund machen?“ Der Kranke ist einverstanden, die vier packen seine Matratze und schleppen den Gelähmten davon. Falls jemand von Ihnen schon mal bei einer Rot-Kreuzübung mitgemacht hat, der weiß wie schwer ein Mensch auf der Trage sein kann. Vor allem, wenn es nicht um ein paar Meter zum nächsten Krankenwagen geht, sondern durch die ganze Stadt. Das kostet Kraft und Ausdauer. Aber aus Liebe zu ihrem kranken Freund war ihnen das alles egal. Hauptsache zu Jesus, das war ihnen wichtig.

Das Verhalten der Freunde lässt mich fragen: Was lassen wir es uns eigentlich kosten, dass Menschen geholfen wird? Oder noch tiefgehender gefragt: Wen bringen wir zu Jesus? Wir sollen keine Methoden wie bei Sekten anwenden. Wir müssen uns auch nicht überfordern und Dinge machen, die uns nicht entsprechen. Ich kann zum Beispiel keine Traktate in der Fußgängerzone verteilen. Anderen aber macht das gar nicht aus. Aber es geht hier nicht um die Methode, sondern es geht mehr um unser Bewusstsein: möchten wir, dass Menschen zum Glauben kommen? Merken überhaupt andere um uns herum in der Schule und in den Betrieben, dass wir Christen sind? Beten wir darum, dass Gemeinde wächst und dass mal wieder eine Erweckung geschieht in Deutschland oder unserer Stadt?

Die vier damals wollten ihren kranken Freund um jeden Preis zu Jesus bringen. Sie haben keine Mühen gescheut, vielleicht auf ihren Feierabend verzichtet und sich dreckige Hände und spöttische Bemerkungen geholt. Und das alles, weil sie fest darauf vertraut haben, dass Jesus helfen kann.

Aber wie sollten sie zu Jesus hinkommen?

Vor dem Haus, in dem Jesus war, hatte sich wahrscheinlich schon eine Menschentraube gebildet. Niemand wollte die vier mit der Matratze durchlassen. Aber Liebe macht erfinderisch. Sie entschließen sich, Jesus aufs Dach zu steigen. Die Folge ist eine Gottesdienststörung, wie wir sie wohl noch nie erlebt haben. Mitten im Gottesdienst wird das Dach abgedeckt. Ich stelle mir das hier in der Kirche vor. Wahrscheinlich würden wir gleich erschrocken aufstehen, uns gestört fühlen und das alles als Sachbeschädigung sehen. Damals wird das wohl nicht anders gewesen sein. In Israel sind die Dächer flach, zwischen den Balken Zweige und Lehm. Da ist es kein Problem, ein Loch auszuheben. Ich glaube, wir können uns das nicht plastisch genug vorstellen, wie da erst der Lehm bröckelt und dann der Gelähmte auf seiner Matratze Jesus mitten vor die Füße schwebt. So wichtig war den Vieren, dass ihr kranker Freund zu Jesus kommt. Sie gaben nicht auf, als es auf Anhieb nicht klappte. Sie bohrten solange, bis sie sich bei Jesus Gehör verschafften. Das ist Glaube! Die vier Gesunden haben mit dem Kranken und für den Kranken geglaubt, dass Jesus helfen wird. Das war sozusagen eine Gebetsgemeinschaft auf acht Beinen und einer Matratze. Sind nicht auch um dich Menschen, die Hilfe brauchen, die deine Fürbitte brauchen, die die Begegnung mit Jesus brauchen?

2. Was ist mein Motto: Hauptsache gesund oder Hauptsache Vergebung?

Schließlich liegt der Gelähmte vor Jesus. Und die vier Freunde hatten natürlich gehofft, dass Jesus ihn körperlich heilt. Aber stattdessen geschieht zunächst etwas Anderes: Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Das ist nun wirklich eine Überraschung! Viele verstehen gar nicht, was Jesus da gerade gesagt hat. Nur die Schriftgelehrten, ausgebildete Theologen, machen ganz finstere Gesichter, denn sie wissen: kein Mensch kann Sünden vergeben. Sünden vergeben kann nur Gott! Und da haben sie ja Recht! Sündenvergeben ist das schwerste Geschäft überhaupt. Und dieses Geschäft lässt sich Gott nicht abnehmen. Deshalb starb Jesus schließlich am Kreuz. Wenn Jesus hier sagt: deine Sünden sind dir vergeben, behauptet er damit, dass er Gott gleich ist und das ist in den Augen der Schriftgelehrten Gotteslästerung.

Jesus aber macht mit diesem seinem Handeln deutlich, was wirklich wichtig ist, was die Hauptsache im Leben ist. Die meisten Menschen, auch viele Christen, stehen auf dem Standpunkt: „Hauptsache gesund!“ Wie oft höre ich das bei Geburtstagsbesuchen und ich kann es gut verstehen. Wie viel körperliches Leiden begegnet mir im Gemeindealltag und bei Krankenhausbesuchen! Und wie es sich wirklich anfühlt, krank oder gar lebensgefährlich erkrankt zu sein, das kann man sich vorher nicht wirklich klar machen. Insofern möchte ich hier sehr vorsichtig formulieren. Und dennoch muss ich fragen: Wenn Gesundheit in wörtlichem Sinn die Hauptsache in unserem Leben ist, was passiert dann, wenn wir wohlmöglich dauerhaft krank sein werden? Wenn Gesundheit wirklich die Hauptsache in unserem Leben ist, was sage ich dann den jungen Eltern, die mir im Taufgespräch etwas verlegen sagen: „So ganz gesund ist das Kind nicht, es hat einen schweren Herzfehler.“ Und was sage ich den Menschen in unserer Tagespflege, bei denen sich die Gesundheit schrittweise immer mehr abbaut? Bei allem Mitfühlen mit Kranken und beim klaren Bewusstsein, dass auch meine Gesundheit nachlassen wird: Ich spüre, dass es eine andere Hauptsache für unser Leben geben muss. Eine Hauptsache, in der unsere Sorgen um Gesundheit und Krankheit ihren Platz haben, aber eben nicht unser ganzes Leben erfüllen.

Jesus sagt nicht: Hauptsache gesund! Jesus sagt: Hauptsache ist die Sündenvergebung. Das heißt nicht, dass Jesus die Gesundheit für unwichtig hält. Im Gegenteil, er kümmert sich um die Gesundheit des Gelähmten. Sogar mehr als alle anderen. Mehr als die Schriftgelehrten, die Krankheit als Sündenstrafe ansehen. Mehr als die Ärzte, die keine Möglichkeit der Heilung sehen. Jesus macht den Gelähmten wirklich gesund, aber er macht ihn eben erst gesund, nachdem er ihm die Sünden vergeben hat. Er schafft es, dass nicht nur seine Beine wieder funktionieren, sondern auch seine Seele das Laufen wieder lernt.

Ich lerne aus dieser Begebenheit: Unsere Gesundheit ist endlich, die Sündenvergebung ist ewig. Manchmal schenkt Gott beides gleichzeitig: Heil und Heilung. Manchmal bleibt es aber bei der Sündenvergebung. Es gibt gewaltige Zeugen Gottes, die gewiss unter der Vergebung Gottes lebten und dennoch dauerhaft ein körperliches Leiden hatten. Die erlebt haben, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist (2. Kor. 12, 9). Die erlebt haben, dass für ihr Leben die Vergebung die Hauptsache war, weil die Sünde so schrecklich ist.

Sünde ist ein uraltes Wort und viele können es nicht mehr hören oder verharmlosen es, z.B. mit dem Begriff Verkehrssünder. Oder ein Diabetiker sagt, wenn er ein Stück Torte gegessen hat: „Da habe ich heute gesündigt.“ Das ist ein lächerliches Sündenverständnis. Sünde sind keine Peanuts. Sünde heißt Trennung von Gott. Sünde heißt: da ist eine große Kluft zwischen Gott und uns. Ein Abgrund, der uns trennt und wo wir keine Chance haben, ihn von uns aus zu überwinden.

Aber dabei muss es nicht bleiben. Jesus spricht zu dem Gelähmten und auch zu uns: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Hier müssen damals die Schriftgelehrten eingreifen. Aus gutem Grund. Nur Gott kann Sünden vergeben. Die Schriftgelehrten nehmen mit ihrem Einwand Gott in Schutz, nehmen die Sünde ernst als das, was sie ist: nämlich als etwas, was Menschen nicht aus der Welt schaffen können. „An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan“, so betet David nach der Uria- Bathseba- Affäre. Die Kritiker Jesu haben recht: „Wer kann Sünden vergeben, denn allein Gott?“ Und sie sprechen damit das Entscheidende aus: Der hier vergibt, ist Gott! In Jesus Christus kommt der sündenvergebende Gott zu uns! Das war damals für die Schriftgelehrten absolute Anmaßung, die Jesus da vornimmt. Und für den Gelähmten und für uns heute ist es das Leben im Vollsinn – im Heil und geheilt.

So weit, so gut, könnte man meinen. Etwas flapsig könnte man sagen, die Geschichte hat somit ein happy end. Der Gelähmte steht auf Jesu vollmächtiges Wort hin auf, nimmt seine Trage und geht nach Hause. Und noch dazu sind ihm die Sünden vergeben. Und doch steht am Schluss die Frage im Raum:

3. Wie stehe ich zu Jesus?

In V. 12 heißt es: „Da entsetzten sich alle und priesen Gott und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.“ Ist dieses Gotteslob schon ein Christusbekenntnis in dem tiefen Sinn, dass Jesus wirklich der von Gott gesandte Christus ist? Oder ist das noch oberflächlicher Glaube an einen wundervollbringenden Jesus? Ein Glaube, der sich von einem Wunder zum anderen hangelt, aber ins Straucheln kommt, wenn Gott schweigt und eben keine Wunder tut? Immerhin: in dem Entsetzen kommt zumindest eine Ahnung darüber zum Ausdruck, dass hier etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes geschehen ist. Die Menschen damals haben offenbar etwas davon gespürt, dass in Jesu Wirken Gott selbst am Werk ist. Sie staunen einerseits über die körperliche Heilung, aber wohl noch viel mehr über die geistliche Vollmacht der Sündenvergebung. Das alles sprengt ihre und vielleicht auch unsere menschlichen Vorstellungen von Gott total. Die einen stoßen sich daran – das waren die Schriftgelehrten damals. Und sie haben viele Nachahmer gefunden bis heute. Die anderen freuen sich und stimmen ein in den Lobpreis Gottes. Auch sie haben viele Nachahmer gefunden bis heute: Menschen, die aus dem Wunder der Vergebung leben. Wo stehe ich? Wo stehst Du?

Amen.

 ,

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/41168; E-Mail: friedemann.wenzke@elkb.de