Predigt am 11.09.2022, 9.30 Uhr Kreuzkirche: Lk. 10, 25-37

Liebe Gemeinde,

im Vorübergehen fragt mein Nachbar wie es mir geht. Er fragt nicht, weil er mitgehen will. Er fragt, weil er weitergehen will. Ich antwortete, es geht. Aber so geht es nicht, so nicht.

An diese Beschreibung eines leider allzu alltäglichen Geschehens muss ich immer wieder denken, wenn ich dieses Gleichnis lese, was heute der Predigttext ist. Wir tun so, als wenn wir uns für den anderen interessieren. Aber nur nicht zu viel. Nur im Vorübergehen. Wenn überhaupt.

Ich lese Lk. 10, 25-37:

Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
27 Er antwortete und sprach: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst"
28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber.
32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn;
34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.
35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?
37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Wie oft gehen wir vorüber? Vorüber an Menschen, an Gott, an den wesentlichen Dingen und Fragen unseres Lebens? Wie oft gehen wir vorüber, verpassen wir das eigentlich Not-wendige, weil wir scheinbar Wichtigeres zu tun haben?

Der Schriftgelehrte, der sich an Jesus wendet, gehört zwar zu der Gruppe von Menschen, die in der Beurteilung des neuen Testaments wohl am schlechtesten wegkommt; aber eines muss man ihm ohne Wenn und Aber bescheinigen: Er ist mit seiner Frage – »Meister, was muss ich tun um das ewige Leben zu erben?« – an dem, was das Wesentliche des Lebens ausmacht, ganz dicht dran. Er stellt die wichtigste Lebensfrage überhaupt.

Und Jesus nimmt den Schriftgelehrten vollständig ernst. »Du hast recht geantwortet, tue das: den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Vermögen und mit deinem ganzen Gemüte, und deinen Nächsten wie dich selbst!« tue das, so wirst du leben!“

Wie kommt es nun, dass diese Begegnung an dieser Stelle nicht einfach ein für beide Seiten zufriedenstellendes Ende findet?

Es liegt wohl daran, dass Jesus zur Sündenerkenntnis führen will, der Mann sich aber nicht wirklich darauf einlässt. Das ist das erste, was ich mit euch an diesem Gleichnis anschauen möchte:

1. Jesus führt in tiefere Selbsterkenntnis.

Konrad Adenauer, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft, soll einmal am Ende seines Lebens gesagt haben: »Ich wollte ihre Geldbörsen füllen und habe ihre Altäre geleert.« Ja, vielleicht war das die große Versuchung der letzten Jahrzehnte, die zu großen Teilen von wachsenden Wohlstand geprägt waren, dass das Lebensgefühl eingetreten ist: wir schaffen es doch gut allein ohne Gott. Ob sich das jetzt wandelt, wenn sich die Zeiten so grundlegend ändern wie gerade? Bisher geht meinem Eindruck nach noch keine Erweckung durch das Land, aber ich bete weiter darum. Sie auch?

Wir schaffen es doch ganz gut allein ohne Gott oder? Wie wichtig war mir selbst das ganze Alltagsgeschehen und wie oft hat es mir Ausreden geliefert, Gott immer wieder hintenan zu schieben. Dem Berufsalltag habe ich gedient, habe ich damit auch Gott gedient? Wieviel Zeit habe ich Gott gewidmet? Wie irdisch gesinnt war meine ganze Herzenshaltung. Habe ich nicht auch oft meinen inneren Altar geleert um des Berufs, der Familie, der Schule willen? Vielleicht wollen wir es ja sogar so gerne anders ganz im Sinne von Paulus: „Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht.“ Und dann versuche ich mich rauszureden. Das sind dann Sätze wie: »sonst verliere ich meinen Arbeitsplatz«. Oder: »Du siehst doch unter welchen Zwängen ich stehe« oder »ich kann nicht einfach über meinen Schatten springen«. Man sucht mit Ausflüchten bei anderen die Schuld, um sie bei sich nicht suchen zu müssen. Ein Verhaltensmuster, das sich durch die Bibel und die Zeiten zieht. Bei Adam lautete diese Formulierung: »Das Weib, das du mir gegeben hast (ist schuld)«. Bei Kain ruft Gott entgegen nach dem Brudermord: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?«

Und ein ebenso krasses Beispiel: Bei den Nürnberger Prozessen, mit denen das »Dritte Reich« sein Ende fand, hörte man sehr oft: »Ich tat nur meine Pflicht«. Oder: »Es geschah auf Befehl«.

Auch der Schriftgelehrte, der in unserem Predigtabschnitt zu Jesus kommt, empfand offensichtlich, dass er das, was er selbst als Lösung seiner Frage bezeugte, so nicht einlösen konnte. Er wusste, dass er schuldig wurde bei dieser großen Aufgabe: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst"

Sein Hintertürchen, durch das er diesem Dilemma zu entkommen suchte, lautete: »Wer ist denn aber nun mein Nächster?« Und er hatte in seiner Frage einen wesentlichen Teil der jüdischen Tradition auf seiner Seite. Denn nach 3. Mose 19, 18 ist der Nächste nur der Volksgenosse, d. h. der Israelit. Und eben kein Samaritaner, kein Ausländer.

Aber Jesus lässt sich weder auf jüdische noch auf neuzeitliche Ausreden ein. Jesus erkennt, dass der Fragesteller sich herauswinden will. Warum? Weil das Typische an Begegnungen mit Jesus war und ist, dass Menschen sich im Gegenüber zu Jesus in der Tiefe selbst erkennen. Gegenüber Jesus spüre ich, wie nichtig und hohl alle selbstgebastelten Ausredensysteme sind. Da fange ich an zu erkennen, worum es wesentlich im Leben geht. Wer Jesus begegnen will, muss dazu bereit sein, sich in die Tiefe der Selbst- und Sündenerkenntnis führen zu lassen. Damit hat das Gleichnis schon eine erste wichtige Aussage für uns.

2. Jesus geht mit uns einen Weg von der Verheißung zur Erfüllung

Schauen wir uns als Zweites den Ort des Geschehens an: Zwischen Jerusalem und Jericho geschah das Verbrechen. Zwischen zwei Städten, die in der Verheißungs- und Erfüllungsgeschichte Israels eine ganz besondere Rolle spielen: Jerusalem, die Stadt des Friedens, die Stadt Davids, des Tempels Gottes. Und Jericho, die uneinnehmbare Festung am Beginn des Einzugs in das gelobte Land, die nicht durch Waffengewalt sondern durch Lobpreis Gottes besiegt wurde. Zwischen diesen beiden Städten des besonderen Wirkens Gottes liegen bis heute wüste, felsige Schluchten. Wahrscheinlich war es das Wadi Kelt, das auch heute noch von vielen Touristen begangen wird, durch das sich der Reisende unseres Gleichnisses auf den Weg machte. Auf jeden Fall ging es auf gefährlichen, leicht von Räubern kontrollierbaren Pfaden ziemlich steil abwärts.

Ich frage mich: Braucht es auf dem Weg zwischen den Verheißungs- und Erfüllungsorten Gottes für jeden von uns solche steinigen Wege abwärts? Wege, auf denen wir alles verlieren, was vorher unseren Reichtum, unsere Sicherheit, auch unsere religiöse Sicherheit, ausmachte? Weg vom Tempel führt der Weg in den Alltag, wo die Not auf der Straße liegt, aller fromme Glanz und Pomp hinter uns gelassen ist und es die staubigen Straßen des Alltags zu gehen gilt?

So erleben wir es doch oft in unserem Glauben: Wir erleben Hochzeiten dies Glaubens. Orte und Zeiten der besonderen Gegenwart Gottes. Und dann gilt es wieder, die rauhen Straßen dieser Welt unter die Füße zu nehmen und Alltagswege zu gehen. Für die allermeisten von uns ist das spätestens ab Montag der Fall. Da hat uns der Alltag nach der langen Sommerpause wieder. Viele von uns hatten verschiedene Urlaube und auch gesegnete Freizeiten erlebt. Und nun geht es in der kommenden Woche wieder in den Alltag. Da sind wir jetzt auf dem Weg zwischen Verheißung und Erfüllung. Und dabei begegnet uns manche Not auch anderer Menschen. Und damit verbunden die Frage: wie verhalten wir uns?

Der Priester und der Tempeldiener gehen vorbei. Und ich möchte nicht vorschnell über sie den Stab brechen. Die Gründe für unterlassene Hilfeleistung können vielfältig sein und durchaus nachvollziehbar. Auch bei dem Priester und dem Leviten. Sie wechseln die Straßenseite. Ausgerechnet die religiösen Repräsentanten des jüdischen Volkes, die es besser wissen müssten, machen einen Bogen um ihn. Haben sie Angst, dass die Räuber noch in der Nähe sind und sie überfallen könnten? Oder glauben sie, dass jede Hilfe für den Niedergeschlagenen inzwischen zu spät kommt? Ein spezieller Grund für das Verhalten von Priester und Levit könnte auch darin liegen, dass sie sich kultisch an ihm verunreinigen würden und damit für ihren Tempeldienst erst einmal eine Woche nicht mehr infrage kämen. Eine Frage der Priorität also. Was ist wichtiger: Tempeldienst oder Menschendienst?

Ich denke, wir ahnen es: purer Gottesdienstbesuch reicht eben nicht. Es geht um praktizierten Glauben am Montag und allen anderen Wochentagen. Es geht darum, dass wir das leben, was rund 800 Menschen in den letzten zwei Wochen auf vier parallelen Freizeiten der Ev. Jugend Gruppe Luther erlebt haben. Und das macht uns im Blick auf unser Miteinander der Samariter vor. Zum Glück gibt es noch diesen Mann, der auf einem Esel daherkommt und nicht wegsieht und nicht weiterzieht, wo bei anderen das Motto gilt: Aus und vorbei. Zum Glück gibt es solche Samaritermenschen auch heute noch.

Damit bin ich beim dritten Punkt:

3. Jesus führt uns den Weg in diese Welt hinein, bevor er uns zu sich ruft

Der Samariter lässt das Elend des Überfallenen an sich heran, ganz nah. Er wehrt es nicht ab. Er sieht hin, und er hilft. Nicht unbegrenzt. Er delegiert die Unterstützung dann auch und achtet auf seine Grenzen. Das ist legitim und gut. Schauen wir nochmal hin:

In aller Ausführlichkeit schildert Jesus, was der Samariter tut. Er wäscht die Wunden aus und verbindet sie. Er bringt den Verletzten in eine Herberge und bleibt eine ganze Nacht bei ihm. Und am nächsten Tag gibt er dem Wirt einen Geldbetrag, der einem Zweitageslohn eines Arbeiters entspricht, und bittet ihn, für den Überfallenen zu sorgen bis er wiederkommt.

Er füllt das große Wort, »mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, von allen Kräften und mit ganzem Gemüt« zu lieben, mit Leben. Der Samariter hilft mit dem, was er hat und was er ist. Und wird so zum Nächsten dessen, der unter die Räuber gefallen ist.

Das also ist das Gleichnis, das Jesus verwendet, um deutlich zu machen, wer der Nächste ist. Jesus macht damit deutlich: Die Rollen sind nicht festgeschrieben und starr. Denn Du und ich sind ja nicht automatisch immer auf der Seite des Starken. Wir finden uns ja immer wieder auch auf der Seite des körperlich oder psychisch Verletzten wieder. Nächster sein, das heißt also durchaus auch derjenige sein, der Unterstützung und Hilfe braucht und annimmt. Nächster sein heißt aber auch, derjenige sein, der Verantwortung übernimmt und tut, was dran ist, um Not zu lindern. Beides gehört zusammen und du kannst dich in deinem Leben in beiden Rollen wiederfinden: als der, der Hilfe schenkt und der, der Hilfe braucht. Manchmal geht das ganz schnell, das man von der Seite des Starken auf die Seite des Schwachen wechselt. Ein Diagnosesatz des Arztes genügt. Oder des Chefs, der die Entlassung mitteilt. Oder des Ehepartners, der untreu war. Oder der Satz im Zeugnis: nicht versetzt. Es ist gut, wenn uns das bewusst ist, dass unsere Stärke immer gefährdet ist. Das bewahrt uns vor Hochmut und Stolz.

Vielleicht merken wir auch am Ende dieser Predigt: Gerade in der Position des vermeintlich Starken und Gesunden werde ich immer wieder schuldig! Aber vergessen wir nicht, dass Jesus gerne bereit ist, uns zu vergeben und uns helfen, dass wir den Nächsten mehr in den Blick bekommen.

Und denken wir daran: selbst wenn wir körperlich stark sind, so liegen wir doch oft geistlich zerschlagen oder verletzt am Boden, sind enttäuscht von uns selbst oder gar von Gott. Können nicht mehr weiter, weil das Leben oder andere uns Wunden geschlagen haben. Und dann ist Jesus selbst unserer Samariter. Dann hilft uns Jesus auf. Er ist unser Nächster geworden und übt Barmherzigkeit – ohne zu fragen, ob wir es verdient haben. Er richtet dich wieder auf. Er trägt dich, wo du selbst nicht mehr laufen kannst. Er lässt dir, wo es Not ist, Hilfe zukommen, weil du sonst vielleicht nicht durchkommst. Jesus ist der, der die Rolle des Samariters überdeutlich vorgelebt hat und bis heute vorlebt. Nur deshalb kommen wir ans Ziel. Gleichzeitig aber sollten wir nicht vergessen: als Erlöste sind wir dazu befreit, mehr und mehr in den Spuren Jesu unterwegs zu sein. Und dazu gehört eben auch das, was wir im Blick auf unseren Nächsten tun. Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/41168; E-Mail: friedemann.wenzke@elkb.de