Predigt zum 2. Advent 2021, 05.12.2021, Kreuzkirche Bayreuth

Liebe Gemeinde,

Ich lese den heutigen Predigttext aus Jesaja 63, 15–64, 3. Ich lese ihn heute aus der Übersetzung: Hoffnung für alle:

Herr, schau doch herab vom Himmel, von deinem heiligen und majestätischen Thron! Warum setzt du dich nicht mehr mit ganzer Kraft für uns ein? Wo sind deine großen Taten? Warum hältst du dich zurück? Schlägt dein Herz nicht mehr für uns? Ist deine Liebe erloschen? Du bist doch unser Vater!

Abraham weiß nichts von uns, auch Jakob kennt uns nicht. Du, Herr, du bist unser Vater. “Unser Erlöser” - so hast du von jeher geheißen. Warum lässt du uns vom richtigen Weg abirren? Warum hast du uns so eigensinnig werden lassen, dass wir keine Ehrfurcht mehr vor dir haben? Bitte, wende dich uns wieder zu! Wir sind doch immer noch deine Diener, das Volk, das dir gehört. Für kurze Zeit haben die Feinde dein heiliges Volk vertrieben und dein Heiligtum zertreten.

Es geht uns so, als hättest du nie über uns geherrscht, als wären wir nie das Volk des Herrn gewesen! Ach Herr, reiß doch den Himmel auf und komm zu uns herab! Lass vor deiner Erscheinung die Berge ins Wanken geraten!

Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Liebe Gemeinde, ein leidenschaftliches Gebet ein flammender Appell an Gott, endlich sein Schweigen zu brechen. Mir ist gleich ein harter Vorwurf in diesem Gebet aufgefallen, ihnen auch? Der Beter hält Gott vor: Warum lässt du uns vom richtigen Weg abirren? Warum hast du uns so eigensinnig werden lassen, dass wir keine Ehrfurcht mehr vor dir haben? Das ist etwa so, wie wenn ein Kind, das sich den Bauch mit Süßigkeiten vollgeschlagen hat, partout nicht den leckeren Sonntagsbraten der Mutter essen will und dann noch frech behauptet: Bist ja selber schuld, dass ich nichts esse. Hättest halt kochen sollen, was mir schmeckt. Kann man das ernst nehmen so einen Vorwurf: Du Gott, bist schuld, dass wir nicht glauben? Lässt sich die eigene geistliche Verantwortung wirklich so einfach auf die Seite schieben?

Die Beter im babylonischen Exil begründen ihre drastische Klage Gott gegenüber. Sie empfinden den dauerhaften Verlust ihres Landes und ihres Heiligtums in Jerusalem tatsächlich als bedrohlich. Wie sollen sie denn glauben ohne diesen Ort der besonderen Gegenwart Gottes? Wie sollen sie denn glauben ohne die schönen Gottesdienste auf dem Zion, ohne die Opfer, ohne die himmlischen Gesänge der Leviten? Das waren doch die wesentlichen Bezugspunkte ihrer Frömmigkeit. Darauf war ihr Glaube doch angewiesen. Die Babylonier protestieren und klagen. Und ich kann sie verstehen.

Könnten wir uns denn einen Glauben vorstellen ohne die Kirche, ohne Pfarrer, ohne Gruppenstunden, ohne Religionsunterricht, ohne Weihnachten, Ostern und Pfingsten, ohne Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung? Wir merken doch, wie nervös wir sind, weil das alles in dieser Pandemiezeit bedroht ist: wie können wir dieses Jahr Weihnachten feiern? Wie Konfirmation? Wie lange dürfen wir noch Gottesdienste halten und wie? Aber auch unabhängig von der Pandemie diskutieren wir in unserer Landeskirche die Zukunft der Kirche. Leider im Moment sehr reduziert im Blick den Landesstellenplan. Pfarrstellen werden drastisch gekürzt, weil die Gemeindegliederzahlen zurückgehen, auch hier im Kreuz. Waren es im Jahr 2000 noch 4000 Gemeindeglieder, sind es jetzt 2900. Es braucht nicht viel Mathematik dazu, um sich die weiteren Zahlen in 20 oder 40 Jahren auszurechnen. Und es wird geklagt und protestiert gegen die Kürzungspläne. Teilweise aus guten Grund, teilweise abwegig. Es ist eben nichts mehr selbstverständlich. Nichts bleibt, wie es war. So gesehen können wir die Klage der Beter im babylonischen Exil ganz gut nachvollziehen.

Gleichzeitig sollten wir uns aber auch die andere Frage stellen: Ist unser Glaube wirklich so abhängig von all seinen sichtbaren Bezugspunkten? Tragen die Beter da nicht doch ein bisschen zu dick auf, wenn sie behaupten, Gott selbst sei verantwortlich für ihre verstockten Herzen? Ich frage mich: Wer so leidenschaftlich beten kann, der ist doch nicht verstockt. Du, Herr, du bist unser Vater. Kann das einer sagen, der von Gott nichts mehr wissen will?

Nein! Das kann nur ein Beter sagen, der zwar extrem angefochten ist, aber Gott nicht loslässt. Der sich klammert, der mit Gott kämpft, aber letztlich Gott eben nicht loslassen will. Stattdessen will der Beter eben, dass Gott sich endlich mächtiger zeigt. Dass endlich wieder was Geistliches passiert. Was Beeindruckendes! Nicht so ein Dahinplätschern des Glaubens und des Gottesvolks.

Wie ist das denn bei uns, liebe Gemeinde? Leiden wir denn darunter, dass für viele der Glaube zu einer ziemlich beliebigen und oberflächlichen Sache geworden ist? Auch in unseren Familien, im Freundeskreis und in der Gemeinde. Müsste deshalb nicht unser brennender Wunsch und unsere tägliche Bitte die sein, dass Gott wieder so etwas wie einen religiösen Aufbruch oder eine geistliche Erweckung schenkt? Ich glaube schon! Ich sage es sehr plakativ, aber auch sehr selbstkritisch: wir Pfarrer der Region Bayreuth-Südwest hatten inzwischen 11 Treffen von je drei Stunden, um die Pfarrstellen ab 2024 zu verteilen. Aber wir haben uns noch keinen einzigen Nachmittag getroffen, um für eine Erweckung, eine neue Sehnsucht nach Gott in dieser Stadt zu bitten.

Hier sind mir die Babylonier ein Vorbild: Diese Sehnsucht, dass Gott endlich wieder in Erscheinung tritt und zwar so, dass niemand das übersehen und überhören kann, die haben sie. Das fällt mir auf und davon will ich lernen! Ganz unbescheiden stellen sie sich das vor. Donnern und krachen soll es da. Den Himmel soll es zerreißen und die Berge sollen nur so dahinschmelzen. Staunen und erschrecken soll die ganze Welt über ihren Gott, der solches tut!

Diese Bitte würden wir wohl deutlich bescheidener formulieren. Aus gutem Grund. Wir wissen schließlich, wie bescheiden das zuging damals, als dann endlich ein kleiner Teil Israels tatsächlich wieder zurück durfte nach Jerusalem. Das war alles ein paar Nummern kleiner.

Und erst recht geht es uns so, wenn wir auf Jesus schauen. Das war mehr ein sanftes Rauschen als ein ohrenbetäubendes Donnern, damals, als er in einem dunklen Winkel in Bethlehem zur Welt kam. So einen wie Jesus, den kann man leicht überhören und übersehen. Und bei seiner Ohnmacht am Kreuz, wer dachte da schon an die Allmacht Gottes! Jesus war nie der große Rebell, der Mann der lauten Töne und der, der auf äußere Zeichen der Macht geachtet hat. Schlicht und einfach ist er durch die Lande gezogen mit ein paar Jüngern im Schlepptau, die die Landeskirche wahrscheinlich nicht mal zu einem Bewerbungsgespräch einladen würde.

Nein, das große Finale der göttlichen Offenbarung, das kommt wirklich erst ganz am Schluss, dann, wenn Christus in Herrlichkeit wiederkommt, dann, wenn diese alte Welt der neuen Schöpfung weichen muss und das himmlische Jerusalem in seinem Glanz erstrahlt. An dieser Hoffnung gilt es festzuhalten. Denn das ist in der Tat die großartige Perspektive, mit der wir leben. Diese Perspektive, die wir uns in der Zeit des Advents wieder in Erinnerung rufen.

Aber, liebe Gemeinde, diese Perspektive vom Ende der Welt, vom Triumph des Weltenherrschers über alle Mächte des Bösen darf und soll uns gerade nicht den Blick verstellen für die Gegenwart unseres Glaubens. Diese Gegenwart ist bestimmt durch die manchmal kaum auszuhaltende Spannung zwischen dem, was wir für die Zukunft erhoffen und dem, was wir in der Gegenwart erfahren. Es ist eine der großen Versuchungen der Christenheit, diese Spannung in die eine oder andere Richtung auflösen zu wollen.

Entweder so, dass man die Gegenwart des Glaubens preisgibt und alle Hoffnungen auf die Ewigkeit richtet. Im Mittelalter und im Zeitalter des Barock findet man dafür viele Zeugnisse: Die Welt ein Jammertal, das Leben hier eine einzige Plage, der Tod die große Befreiung, das Tor ins Paradies. Das war ein Leben in Weltflucht.

Heute allerdings ist die Versuchung viel größer, diese Spannung in Richtung Gegenwart auflösen zu wollen. Dann, wenn man den Glauben klein redet und die Hoffnung auf Vollendung für unnötig erklärt. Oder wenn man den Glauben auf eine bestimmte Moral reduziert in dem Sinn: nur nichts zuschulden kommen lassen, dann bin ich okay vor Gott und Mensch. Oder indem man sich zu sehr auf die Zeichen und Wunder konzentriert, die Gott jetzt schon tut. Aber, wehe diese Wunder bleiben aus, dann ist der Fall tief und die Enttäuschung groß. Dann gibt es die enttäuschten Christen, die Aussteiger aus den Gemeinden, die aus ihrem seelischen Loch kaum noch herauskommen. Weil sie ihren Glauben zu diesseits gelebt haben und nicht verstanden haben, dass jedes Wunder nichts anderes als ein Fingerzeig ist auf das, was einmal kommen wird. Ein Vorabzeichen, ein Hinweis, ein Mutmacher, das wohl, aber nichts, worauf wir allein unseren Glauben bauen sollen. Das wäre ein viel zu schwankender Grund, wenn wir allein so ein Erlebnischristentum leben würden und dabei das wahre Fundament Jesus Christus nach und nach aus dem Blick verlieren.

Wie aber lässt sich dann, liebe Gemeinde, diese ungeheure Spannung aushalten, die unser Text heute so eindrücklich wiedergibt?

Wie können wir denn damit leben, dass wir einerseits die Gegenwart unseres Glaubens als so kraft- und saftlos erleben und andererseits uns eine so großartige Zukunft verheißen ist?

Zwei Dinge können uns helfen, in dieser Spannung zu leben, ohne sie in eine Richtung aufzulösen.

1. Offen mit Gott darüber zu reden.
2. Die Energie aus dieser Spannung zu nutzen.

1. Offen mit Gott darüber zu reden.

Für das Erste ist unser Bibelabschnitt ein ungemein anschauliches Beispiel. Die Spannung wird dann erträglicher, wenn wir sie aussprechen. Wenn wir das in Worte fassen, was uns bedrückt. Wenn wir diese Spannung vor Gott bringen und ihm unser Leid klagen. Wir haben eben nicht für alles eine Antwort. Auch ich als Pfarrer muss mich selbstkritisch fragen, ob meine Predigten nicht manchmal viel zu rund und harmonisch sind, weil ich es nicht aushalte, auch mal zuzugeben, dass es auf bestimmte Fragen vorerst keine Antwort von Gott gibt.

Die Spannung wird dann erträglicher, wenn wir unserer Sehnsucht Ausdruck geben nach einer heilen Welt, in der allein Gott herrscht und das Böse keinen Platz mehr hat. Wer so betet, der ist alles andere als verstockt, für den ist Gott trotz allem so nah und so vertraut, dass er Vater zu ihm sagen kann. Das kann und darf dann auch mal leidenschaftlich klingen und nicht so fromm und floskelhaft. So gesehen ist unser Predigttext eine Einladung, offener und ehrlicher zu beten, mit all unserer Enttäuschung, mit all unserer Liebe und Sehnsucht, mit all unserem Ringen. Vielleicht ist das noch ungewohnt für manche von uns. Ich kann das gut verstehen. Ich bin da selbst auch noch auf dem Weg. Mir ist nur wichtig geworden: Gott verkraftet gut unser leidenschaftliches Beten und es zieht sich schon durch die Jahrtausende. Und meine persönliche Frömmigkeitsprägung und Glaubens- und Gebetspraxis, so wertvoll sie mir auch ist, darf sich im Laufe des Lebens auch weiterentwickeln und verändern. Die Bibel und auch der heutige Predigttext machen uns Mut dazu.

Das Zweite, was uns helfen kann, in dieser Spannung zu leben: Die Energie, aus dieser Spannung positiv zu nutzen. Also, keine Kurzschlüsse produzieren, sondern sauber anschließen. Keine Weltflucht einerseits, aber auch keine Diesseitsresignation andererseits. Bete um das Kommen Jesu und arbeite gleichzeitig in dieser Welt. Gestalte dein Leben, gerade auch ihr jüngeren Menschen. Ganz praktisch: macht eine Ausbildung, lernt jemand kennen, gründet eine Familie, so Gott will. Es ist unsere Aufgabe, unser Leben zu gestalten. Lasst uns in Erwartung auf Großes Leben, aber das Kleine in diesem Leben nicht vernachlässigen und abwerten.

Ich kann das gut an Advent und Weihnachten verdeutlichen. Jetzt leben wir im Advent, in der Zeit der Erwartung. Und ich weiß, es wird Weihnachten kommen. Das große Fest. Ist die Adventszeit nicht gerade deshalb eine so intensive Zeit, weil diese Spannung und Erwartung so groß ist? Ist diese Weltzeit, vielleicht auch schon diese Endzeit nicht gerade deshalb eine so intensive Zeit, weil die Spannung und Erwartung auf das Kommen Jesu so groß ist? Lasst uns nicht angstvoll darauf schauen, was noch alles passiert, bis Jesus wiederkommt, sondern voller Vorfreude und Erwartung! Lasst uns nicht die Hände in den Schoß legen in der Haltung, es ist sowieso alles bald aus. Sondern lasst uns unserem Auftrag von Gott nachkommen, diese Welt zu bebauen und zu bewahren. Ich erschrecke und widerspreche deutlich manchen aktuellen christlichen Strömungen, die meinen, Klimaschutz wäre keine wichtige Aufgabe für Christen. Natürlich darf Klimaschutz kein Religionsersatz werden. Aber wir wissen nicht, wann Jesus wiederkommt und haben alles in unserer Kraft Stehende zu tun, dass dieser Kosmos nicht schon vorher kollabiert.

Ich möchte zum Schluss nochmal kurz auf die Ursprungssituation unseres Textes schauen: Die babylonische Gefangenschaft. Historisch ist es aufschlussreich, dass gerade das babylonische Exil für den jüdischen Glauben eine prägende Zeit war. In keiner anderen Zeit sind so viele biblischen Bücher entstanden. Israel hat in dieser Zeit gelernt, lebendige Gottesdienste zu feiern auch ohne Tempel und Opferkult. Israel hat, wenn auch unter Schmerzen, gelernt, dass der Segen, die Nähe Gottes, weit mehr bedeutet als Reichtum und Gesundheit und viele Kinder. So war die Exilszeit für die Juden eine Schule des Glaubens, in der sie ganz neue Seiten an Gott entdeckt oder wiederentdeckt haben. Vor allem, dass sie ihn nicht in ein bestimmtes Korsett zwängen durften, dass er sich nicht vor den Karren eigenen Begehrlichkeiten spannen ließ, sondern der souverän Handelnde ist. Ganz unbemerkt hat Gott so das Gebet seines Volkes erhört und dafür gesorgt, dass sein Volk und mit ihm der jüdische Glaube gestärkt aus dieser Zeit des Exils hervorging.

Wenn wir also diese Spannung aushalten, liebe Gemeinde, wenn wir sie Gott gegenüber zur Sprache bringen, dann werden wir schon hier und jetzt die Kraft Gottes spüren. Dann haben wir allen Grund, nicht nur im Advent mit diesem Gott, unserem himmlischen Vater zu rechnen. Lasst uns in Erwartung auf Großes Leben, aber das Kleine in diesem Leben nicht vernachlässigen und abwerten.
Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/41168,

E-Mail: friedemann.wenzke@elkb.de