Predigt am 27.06.2021, Kreuzkirche Bayreuth: 1. Mose 50, 15-21

Liebe Gemeinde,

ich stelle Ihnen zu Beginn eine bedenkliche Begebenheit vor: Da ist ein Seminarleiter, der seine Studentengruppe zur ersten Seminarsitzung nach einer Ferienpause trifft. Er überrascht sie mit der Ansage, dass er die Studenten ohne Vorbereitung einen Überraschungstest schreiben lassen wolle. Und er teilt sogleich auch das Testblatt verdeckt aus und bittet nun die Klasse, das Blatt umzudrehen. Es handelt sich um ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier mit einem schwarzen Punkt in der Mitte. Der Arbeitsauftrag lautet, zu beschreiben, was sie auf diesem Blatt sehen. Anfänglich verwirrt beginnen die Studenten ihre Arbeit.

Nach einiger Zeit sammelt der Seminarleiter die Arbeiten ein und beginnt sie laut vorzulesen: Alle Studenten ohne Ausnahme hatten den schwarzen Punkt beschrieben – seine Position im Raum, sein Größenverhältnis zum Papier usw. Der Seminarleiters lächelt und sagt: ich wollte Ihnen etwas zum Nachdenken geben. Niemand hat etwas über das weiße Papier geschrieben. Jeder konzentrierte sich auf den schwarzen Punkt. 

Worauf haben Sie denn geschaut, als Sie beim Reinkommen auf das Blatt hier vorne geschaut haben? Geschieht nicht dasselbe auch oft in unserem Leben? Wir haben unser ganzes großes Leben wie ein weißes Papier erhalten, um es zu nutzen, zu gestalten und auch zu genießen. Aber wir konzentrieren uns immer auf die dunklen Flecken, auf den schwarzen Punkt oder auch viele schwarze Punkte. Und darüber droht der weite weiße Raum verloren zu gehen. Und wir leben letztlich an der Gnade vorbei. 

Auch in unserem Predigttext gibt es einen großen schwarzen Punkt. Aber es gibt auch viel weißen Raum. Bevor ich nun den für heute vorgegebenen Text mit dem Ende der alttestamentlichen Josefsgeschichten aus 1. Mose 50 lese, will ich Sie an ein paar Ereignisse in dieser bekannten Josefsgeschichte erinnern. Vater Jakob hat zunächst 11 Söhne. Der jüngste ist Josef, den sein Vater als Nesthäkchen und Sohn der Lieblingsfrau Rahel wohl besonders bevorzugt. Damit wird Jakob schuldig. Dies und das Verhalten Josefs erregt bei den Brüdern Neid und Ablehnung und schließlich Hass. Damit werden die Brüder schuldig. Und schließlich entwickelt sich Josef zu einem ziemlich unausstehlichen und unselbstständigen Typ. Damit wird Josef schuldig. Eines Tages hat diese ganze Schuld in der Familie ihren Siedepunkt erreicht: die Brüder wollen ihren Bruder Josef loswerden. Aber wie macht man das elegant? Sie schmieden einen Plan und verkaufen Josef schließlich als Sklaven nach Ägypten. Den entsetzten Vater belügen sie und erzählen, Josef sei von wilden Tieren zerrissen worden. Vater Jakob kommt über den Verlust seines Lieblingssohnes nicht hinweg. Sein Trauerprozess kommt nicht voran. So sitzt der trauernde Vater zuhause und der Lieblingssohn Josef ist im fernen Ägypten. Dort geht es durch Höhen und Tiefen, durch göttliche Bewahrung und Intrigen und letztlich erlebt Josef – Gott sei es gedankt - eine steile Karriere am Hof des Pharao.

Inzwischen ist zu Hause den leiblichen Eltern Jakob und Rahel ein weiterer Sohn geboren worden – der kleine Benjamin. Eine schwere Dürre mit Hungersnot zwingt die Söhne Jakobs schließlich, im fernen und noch erntereichen Ägypten Getreide einzukaufen. Es kommt zu einem Wiedersehen mit Josef, zu einer Wiedervereinigung der ganzen Familie und letztlich zu einem Umzug der Jakobsfamilien nach Ägypten. Eine ungeahnte Wende nach dieser komplexen Schuldgeschichte. Es geht den Familien der Brüder durch Josefs Fürsorge gut. Also am Ende doch alles gut gegangen?

Wenn da nur nicht dieser schwarze Punkt wäre. Der schwarze Punkt der Schuld der Brüder an Josef. Sie ist mit nach Ägypten umgezogen. Schuld verfolgt. Schuld lässt sich nicht totschweigen. Ich habe mal eine Karte gesehen, darauf stand: Wenn du denkst, es ist über irgendetwas Gras gewachsen, kommt bestimmt ein Kamel und frisst es weg. Das ist wahr. Ungeklärte Schuld, unvergebene Schuld ist leider unsterblich und hat das ewige Leben. Das müssen die Brüder Josefs und der Vater hart erleben. Denn es kommt, wie es kommen muss: Eines Tages stirbt der alt gewordene Vater Jakob und wird bestattet. Und hier setzt unser Predigttext ein, 1. Mose 50, 15-21: 

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.
16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach:
17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.
18 Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?
20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
 

Liebe Gemeinde,

Der schwarze Punkt der Schuld der Brüder an Josef. Er ist mit nach Ägypten umgezogen »Schwamm drüber« hat nicht funktioniert. Und »Gras« ist über dieses schlechte Gewissen auch nicht gewachsen. Die Schuld der Brüder an Josef ist noch nicht aufgearbeitet. Der schwarze Punkt und dunkle Fleck im schönen, neuen und reichen Leben der Brüder in Ägypten ist noch nicht gelöscht. Das neue Leben der Brüderfamilien wird durch diese alte Schuld verschattet. Der alte Vater Jakob, und damit eine quasi Lebensversicherung, ist tot. Kommt jetzt die späte Rache des Josef? Die Brüder sehen nur den schwarzen Punkt, schiere Angst engt ihr Leben ein. Ihre Angst vor Josefs Rache ist so groß, dass sie endlich, endlich, nach diesen langen Jahren, Reue zeigen und um Vergebung bitten: Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! 

Jetzt endlich ist der im »schwarzen Punkt« gefangene Lebensblick aufgebrochen. Das in Schuld eingeschlossene Herz öffnet sich. Der Weg in die Freiheit von Schuld für das Leben öffnet sich durch Reue und Bitte um Vergebung. »Schwamm drüber« oder »Gras drüber wachsen lassen« ist eben kein wirksames Rezept für gutes und befreites Leben ohne schlechtes Gewissen.

Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. (V. 18) Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. (V. 17b–20a) 

Hier zeigt sich: Josef hat eine viel innigere Gottesbeziehung als seine Brüder dies erkennen lassen. Josefs Gottesbeziehung ist so lebendig, dass er sich in allen Höhen und Tiefen getragen wusste. Dies war sein Schutz, dass er über dem Verhalten seiner Brüder nicht in eine Lebensverbitterung versinken musste. Er konnte sein Leid an Gott weggeben – getreu dem Wort im Petrusbrief »Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch« (1. Petrus 5,7) Und so hat Gott ihn davor bewahrt, nachtragend zu sein und auf späte Rache zu sinnen: Gott hat mich getragen – ich brauche keine Rache. Josef weiss im tiefsten Grund ganz genau, wie sein Leben auch hätte verlaufen können. Er, der Angeber und verwöhnte Papasohn, wäre im Leben hoffnungslos gescheitert, wenn sich Gott aus Gnade nicht seiner angenommen hätte. Gott hat ihn so gnädig bewahrt dort in Ägypten. Er hat ihn vor dem Tod bewahrt. Vor Ehebruch und falscher Traumdeutung und vielem mehr. Josef wusste: aus Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und deshalb kann ich diese Gnade auch meinen Brüdern zukommen lassen. Die Brüder empfangen Josefs Vergebung ihrer Schuld an ihm. Die Angst ist ihnen weggenommen, die Schuld ist vergeben. Der »schwarze Punkt« ist gelöscht. Der Blick auf das weiße Papier, das große, weite geschenkte Leben ist frei, …

… um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. (V. 20b–21) 

Seit Jesu Tod am Kreuz für unsere Schuld und seine Auferstehung zu unserem Heil haben wir eine Adresse, zu der wir mit unserer Not mit den »schwarzen Punkten« in unserem Leben kommen können. In der Hinwendung zu Jesus Christus gewinnen wir den Mut, reinen Tisch zu machen dort, wo wir an anderen Menschen schuldig geworden sind. Mit ihm an unserer Seite gewinnen wir die Kraft, um Vergebung zu bitten, bzw. die Größe, Vergebung zu gewähren. 

Nochmal zurück zum Seminarleiter. Der sagte zu seinen Studenten: Unser Leben ist ein Geschenk, das wir mit Liebe und Sorgfalt hüten sollten. Die dunklen Flecken – Schuld, gesundheitliche Probleme, Mangel an Geld, Enttäuschungen usw. – sind klein im Vergleich zu allem, was wir in unserem Leben haben. Nehmen Sie die schwarzen Punkte wahr und ernst, aber richten Sie ihre Aufmerksamkeit mehr auf das gesamte weiße Papier.

Und ich möchte vertiefen und ergänzen: richten wir unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die große wunderbare Möglichkeit der Vergebung, die Gott uns schenkt und leben wir sie auch im zwischenmenschlichen Bereich. Die Schuld ist da. Der schwarze Fleck oder viele schwarze Flecken auf unserem Lebenspapier werden nicht einfach geleugnet. Aber wir brauchen uns nicht an unserer Schuld festbeißen. Wir brauchen sie nicht immer und immer wieder uns und anderen beschreiben, so wie die Studenten den schwarzen Punkt beschrieben haben. Stattdessen dürfen wir erleben: Schuld wird vergeben, die schwarzen Punkte lässt Gott ganz und gar verschwinden. Und Gott kann sogar aus schuldhaften Wegen Gutes werden lassen wie bei Josef und seiner Familie. Was für ein Trost, wenn wir uns in unserem Leben verrannt haben. Gott schenkt Neuanfang, löscht die schwarzen Schuldpunkte und kann alles zum Guten wenden. 

Oft sieht man das erst im Nachhinein, so wie Josef. Er erkennt, dass Gott ihn geführt hat durch die Höhen – und vor allem durch die Tiefen hindurch. Er sagt seinen Brüdern: »Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.«

Ich ahne, wie diese Einsicht in den eigenen Lebensweg, so verworren und abenteuerlich er gewesen sein mag, alles verändert und Versöhnung ermöglicht. Gott lässt nicht zu, dass aus Bösem immer weiter Böses entsteht. Gott – unsichtbar gegenwärtig – vermag es, dass aus Bösem sogar Gutes wird.

Was aber ist, wenn wir das Gute nicht oder noch nicht sehen? – Dann bleibt uns allein der Glaube: fest oder manchmal auch zaghaft vertrauen wir Gott. Gott bleibt sich treu. Gott wirkt heilsam in unser Leben hinein, auch wenn wir’s weder sehen noch spüren. Und es sind mit uns Weggenossen des Glaubens unterwegs, die mit uns fragen, ringen, beten und hoffen.

Ich schließe mit Worten eines Mannes, für den es zumindest in dieser Welt kein Happy end gab. Dennoch wurde er von einem solchen Glauben getragen. Der Widerstandskämpfer und Theologe Dietrich Bonhoeffer glaubte und sprach es aus:

»Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.«

Nochmal: die Josefsgeschichte ermutigt uns: schaut nicht gebannt auf die schwarzen Punkte der Schuld, des Leids, der Traurigkeit und Not in eurem Leben. Leugnet sie nicht, aber lasst euch nicht in einen Tunnelblick versetzen. Starre nicht auf deine schwarzen Schuldpunkte. Lass dich immer wieder neu durch die Vergebung Gottes auf weiten weißen Raum führen. Es ist so viel Weite, Freiheit und vor allem so viel Erlösung und Vergebung von Gott her für dich da.

Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/41168/ E-Mail: Friedemann.Wenzke@elkb.de