Predigt über Ex. 14 (in Auszügen): Ostersonntag/ Ostermontag 2021

Liebe Gemeinde,

Ostern beginnt am Tiefpunkt. Das Freudenfest beginnt mit Tränen. Hinter den Jüngern liegt Karfreitag und Karsamstag. Jesus ist tot, sie haben ihn begraben. Jetzt ist alles aus! Der Traum vom guten und sinnvollen Leben. Das Glück, zusammen zu sein, gemeinsam zu lachen, zu diskutieren, etwas zu tun. Das alles, so fühlt es sich für Maria an, ist vorbei, begraben. Die Männer haben sich ins Haus eingeschlossen in ihrer Angst und Verzweiflung. Sie aber steht an Jesu Grab und weint.

Ostern beginnt am Tiefpunkt. Vielleicht auch bei Ihnen? Vielleicht erinnern auch Sie sich an einen solchen Tiefpunkt in Ihrem Leben. An das Gefühl: Jetzt ist alles aus – nichts ergibt mehr einen Sinn. Vielleicht sind auch Sie da auf dem Friedhof an einem frischen Grab gestanden wie Maria. Oder Sie sind allein am großen Esstisch gesessen mit den leeren Stühlen, wo früher die Kinder saßen, die jetzt weit weg wohnen, alle außer Haus. Vielleicht haben Sie die Kündigung in der Hand gehalten, nach langen Jahren und großem persönlichen Einsatz für die Firma. Oder Sie haben auf ein Röntgenbild mit einem Schatten gestarrt, von dem die Ärztin sagte, es sei ein Tumor.

Jetzt ist alles aus! Es gibt Momente im Leben, die fühlen sich so an. Von einem solchen Nullpunkt erzählt auch unser Predigttext aus dem 2. Buch Mose, auch wieder einer der neuen Predigttexte, die vor eineinhalb Jahren dazu gekommen sind. Aber in der Osternacht kam dieser Text schon immer vor. Es ist die Schilderung, wie das Volk Israel durch das Rote Meer zieht. Den sicheren Tod vor Augen: das Meer vor einen, die nahenden Ägypter hinter ihnen, kommt der Durchzug durch das Meer einer Auferstehungserfahrung gleich. Nur dass tragischer Weise beim Durchzug durch das rote Meer viele Ägypter sterben müssen, damit die Israeliten gerettet werden. Zu unserer Rettung aber muss nur einer sterben: Jesus Christus. Und unzählige Menschen werden durch diesen einen Tod leben, ewig leben!

Die Schilderung des Durchzugs durch das Schilfmeer ist ein ganzes Kapitel. Ich lese es in Auszügen während der Predigt.

Und der HERR verstockte das Herz des Pharao, des Königs von Ägypten, dass er den Israeliten nachjagte. Aber die Israeliten waren mit erhobener Hand ausgezogen.

9 Und die Ägypter jagten ihnen nach, alle Rosse und Wagen des Pharao und seine Reiter und das ganze Heer des Pharao, und holten sie ein, als sie am Meer bei Pi-Hahirot vor Baal-Zefon lagerten.
10 Und als der Pharao nahe herankam, hoben die Israeliten ihre Augen auf, und siehe, die Ägypter zogen hinter ihnen her. Und sie fürchteten sich sehr und schrien zu dem HERRN
11 und sprachen zu Mose: Waren nicht Gräber in Ägypten, dass du uns wegführen musstest, damit wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast?
12 Haben wir's dir nicht schon in Ägypten gesagt: Lass uns in Ruhe, wir wollen den Ägyptern dienen? Es wäre besser für uns, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben.
13 Da sprach Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht, steht fest und seht zu, was für ein Heil der HERR heute an euch tun wird. Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wiedersehen.
14 Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein.

Es beginnt am Tiefpunkt. Jetzt ist alles aus! So muss es sich angefühlt haben. Ein Lager am Meer, endlich Rast nach der erschöpfenden Wanderung. Der Blick schweift in die Ferne – und dann das: Das Heer des Pharao rast heran, Schlachtrosse in vollem Galopp, Streitwagen mit bewaffneten Kämpfern. Der Fluchtweg ist abgeschnitten. Vor uns das Meer, hinter uns die Feinde. Das ist das Ende. Panik steigt auf. Und noch etwas: Wut. Die Klage wird zur Anklage an Mose. Was hast du getan? Warum hast du uns alle in den Tod geführt?

Wie es wohl unter den Jüngern Jesu war in den Tagen rund um seinen Tod? Weggelaufen sind sie – aber haben sich wirklich alle dafür geschämt? Oder gab es auch die, die wütend waren? Dieser Menschenfischer mit seinen schönen Geschichten von Liebe und Gerechtigkeit – für ihn haben wir alles verlassen, was uns lieb und teuer war. Und nun lässt er sich töten und bringt uns in Gefahr!

Ja, Wut gehört auch zur Verzweiflung, an den Tiefpunkten, wenn alles vorbei scheint. Wut ist nicht immer nur negativ zu bewerten. In Wut steckt auch Energie, die aus der Krise helfen kann. Die Tumorpatientin kann wütend auf die Ärztin sein, die so spät erst einen Untersuchungstermin frei hatte. Der gekündigte Mitarbeiter auf seinen Chef, von dem er sich verraten fühlt. Die Mutter am leeren Esstisch auf die Kinder, die sich nicht blicken lassen. Der Mann am Grab auf Gott, der es zugelassen hat, dass seine Frau stirbt und er alleine zurückbleibt.

»Warum hast du uns das angetan?« Auf Mose richtet sich der Zorn der Männer und Frauen, die um ihr Leben fürchten. Aber Mose, der durchaus auch immer wieder geistlich angefochtene Anführer der Israeliten bleibt ruhig: »Fürchtet euch nicht, sagt er. Steht fest und seht zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird.«

Was für eine Verheißung! Nimm sie mit auch in deine Lebenssituation, wenn dich deine Vergangenheit einholt und die Zukunft noch versperrt ist wie bei den Israeliten: »Fürchtet euch nicht, sagt er. Steht fest und seht zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird.« Steht fest. Auf beiden Beinen in diesem Leben und im Glauben. Und seht zu. Gott beteiligt uns oft an seinen Plänen und Wundern. Aber manchmal ist es dran, nichts mehr zu tun, weil es einfach nichts mehr zu tun gibt. Was hätten die Israeliten noch tun können, die Ägypter hinter sich und das Meer vor sich? Da kann man nur noch zusehen, wie der Herr eingreift. Steh fest und sieh zu – auch du in den ausweglosen Situationen deines Lebens.

Mose behält Recht – ich lese weiter aus 2. Mose 14:

Da erhob sich der Engel Gottes, der vor dem Heer Israels herzog, und stellte sich hinter sie. Und die Wolkensäule vor ihnen erhob sich und trat hinter sich
20 und kam zwischen das Heer der Ägypter und das Heer Israels. Und dort war die Wolke finster und hier erleuchtete sie die Nacht, und so kamen die Heere die ganze Nacht einander nicht näher.
21 Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der HERR zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken, und die Wasser teilten sich.
22 Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken.
23 Und die Ägypter folgten und zogen hinein ihnen nach, alle Rosse des Pharao, seine Wagen und Reiter, mitten ins Meer.
So errettete der HERR an jenem Tage Israel aus der Ägypter Hand.

Was für ein Wunder, diese Geschichte von der Rettung Israels! Das mächtige Heer des Pharaos: erst aufgehalten und dann – untergegangen! Furchtbar für die Feinde, aber wunderbar für die Israeliten. Die tödliche Bedrohung: verschwunden, ein für alle Mal. Die Männer, Frauen und Kinder, die dem sicheren Ende ins Auge geblickt hatten – frei und gerettet. Eindeutiger kann es nicht sein, offensichtlich für alle: Gott ist stärker als das, was uns bedroht. Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein! Diese Erfahrung dürfen wir auch machen. In allen Konflikten und Herausforderungen auch deines und meines Lebens: Tu, das was Du tun kannst und was deine Pflicht ist, aber leg immer wieder alles in Gottes Hände. Er wird für dich streiten! Und du darfst still sein.

Wie beeindruckend deutlich dort die Rettung am roten Meer! Gott streitet so eindeutig für das Volk Israel. Und wenig eindeutig ist es zunächst an Ostern. Vorsichtig, so erzählen es die Geschichten in den Evangelien, tasten sich einzelne heran an die neue Wirklichkeit: Jesus ist nicht da, wo wir ihn vermuten. Wo ist er dann? Da sind die Frauen mit ihrem Salböl und stehen unverrichteter Dinge da. Da ist Petrus, der suchend zwischen die leeren Leintücher schaut. Da ist Maria, die am Grab weint und mit dem vermeintlichen Gärtner spricht. Da ist Thomas, der fühlen muss, um zu glauben. Da sind die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus, die es erst beim Essen erkennen, dass Jesus immer schon bei ihnen war – und all die anderen Auferstehungszeugen 500 an der Zahl, wie der Apostel Paulus einmal schreibt. Sie alle nähern sich tastend und vorsichtig an den Auferstandenen. Zu uneindeutig erscheint ihnen das alles. Vielleicht ist ja Jesu Leichnam gestohlen worden und er ist gar nicht auferstanden? Sie brauchen lange, um auch nur ansatzweise zu verstehen: Ja, Jesus lebt. „Jesus lebt, er ist mitten unter uns. Jesus lebt, er ist hier bei mir. Quicklebendig. Er ist auferstanden. Er lebt in mir, er ist hier!“ Es ist eben nicht alles vorbei. Es fängt vieles erst an. Langsam kommt wieder Licht ins Dunkel.

Langsam, nicht auf einen Schlag. Auch für die Israeliten ist ja jenseits des Schilfmeeres nicht einfach alles gut. Wir wissen es: Vierzig lange Wüstenjahre liegen vor ihnen, Hunger, Durst, Entbehrungen. Nicht zum letzten Mal haben sie Mose beschimpft, haben sie sich zurück nach Ägypten gewünscht. Vielleicht ahnen das manche schon. Und trotzdem spüren sie: Jetzt ist der Moment zu feiern. Sich zu freuen. Dankbar zu sein. Und das tun sie, die Frauen vorneweg. So steht es in 2. Mose 15:

Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen.
21 Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem HERRN singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.
Zeit für ein Fest! Auch wir feiern heute. Mit Musik –mit der Orgel und unserer Musikgruppe, auch wenn wir nicht singen können. Wir bekennen »Christus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja!« Und damit werden wir zu Protestleuten gegen den Tod.

Wir feiern, dass das Leben stärker als der Tod ist. Wir protestieren gegen den Tod – obwohl er noch da ist und immer wieder nach uns greift, mitten im Leben und am Ende des Lebens. Gerade auch in diesen Monaten und dem ganzen letzten Jahr. Ich glaube, ich habe noch nie in meinen zwanzig Berufsjahren so viele Beerdigungen, aber zugleich so wenig Taufen und Hochzeiten gehabt wie in den letzten 12 Monaten. So viel Tod und so wenig Leben. Das macht auch was mit mir. Das fällt nicht leicht. Aber ich halte daran fest: Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort. Er hat keine Macht mehr über uns, seit Jesus ihn auf sich genommen hat. Wir sind schon gerettet wie das Volk Israel vor der Armee Pharaos. Für die Auferstehung kannst du niemals zu tot sein!

Und ja: Wir können es auch hier und heute schon spüren, dass das Leben siegt. Dass am Tiefpunkt des Lebens doch nicht alles vorbei ist. Dass wir auferstehen von den Toten – mitten im Leben. Dass sich Trauer und Wut verwandeln und neue Wege erkennbar werden: Der Tumor ist entfernt, nach der langen, anstrengenden Therapie kehren langsam die Kräfte zurück – und damit die Dankbarkeit für Kleinigkeiten, die wieder möglich sind. Eine neue Stelle ist in Sicht, und der Neustart sieht plötzlich doch wie eine Chance aus. Der leere Esstisch zuhause bleibt nicht mehr immer leer, stattdessen freuen sich die Gäste, die jetzt öfters eingeladen werden. Und die Besuche am Grab werden ganz langsam seltener, weil der Auferstehungsglaube stärker wird als die Trauer.

Sicher: Nicht immer geht es gut aus in diesem Leben. Bei manchem liegt der Tiefpunkt in einem düsteren Tal, das nicht zu enden scheint. Deshalb ist es gut, dass unser Glaube größer und weiter ist und nicht mit unserem Leben hier endet: »Christus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja!« Selbst mit dem Tod ist nicht alles vorbei. Einmal werden wir leben – ganz und heil und ohne Leid. Dann sind wir ganz gerettet. Das ist die große Verheißung von Ostern. Diese Gewissheit feiern wir schon heute – so wie Miriam und die Frauen die Rettung am Meer gefeiert haben. Wir feiern das Leben bei Gott und singen und essen und trinken schon hier. Wir stecken einander an mit der Freude, indem wir Freude verstecken und suchen lassen. Und wir stehen im Gebet ein für die, die noch nicht mit einstimmen können. Für die, die noch am Rande stehen und zuschauen, weil die Not und der Tod ihnen zu nahe gekommen ist – gerade in diesen Monaten - und sie das neue Leben noch nicht spüren können.

Wir feiern und musizieren schon heute und lassen uns auch von keinem Virus ausbremsen– weil wir Zukunftsmusik machen. So wie Mirjam, die von der Rettung am Meer gesungen hat, aber schon die Hoffnung auf das gelobte Land im Herzen hatte. Hier in der Kirche machen wir Zukunftsmusik und lassen einander darin einstimmen, wie es der ehemalige Tübinger Theologieprofessor Eberhard Jüngel, bei dem ich lange studiert habe, beschrieben hat: »Wenn es so etwas wie Zukunftsmusik gibt, dann [...] ist sie am Ostermorgen an der Zeit: zur Begrüßung des neuen Menschen, über den der Tod nicht mehr herrscht. Das müsste freilich eine Musik sein – nicht nur für Flöten und Geigen, nicht nur für Trompeten, Orgel und Kontrabass, sondern für die ganze Schöpfung geschrieben, für jede seufzende Kreatur, so dass alle Welt einstimmen und groß und klein, und sei es unter Tränen, wirklich jauchzen kann [...]: Ein neuer Mensch ist da.« Ja, das ist Ostern: es wird alles neu, das Alte ist vergangen. Lasst uns aufbrechen zu neuen Ufern, wie es die Israeliten damals machten. Der Herr wird für euch streiten und ihr werdet stille sein! Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, Tel: 0921/41168; E-Mail: friedemann.wenzke@elkw.de