Predigt am Sonntag 21.03.2021 (Judika) : Hiob 19, 19-27

Liebe Gemeinde,

heute geht es um Hiob. Vielleicht erinnern Sie sich: Hiob war der Mann in der Bibel, den innerhalb kurzer Zeit fast alles genommen wurde. Er verliert auf einen Schlag seinen ganzen Besitz und muss gewissermaßen bankrott anmelden. Aber es kommt noch viel schlimmer: Bei einem Unglück durch ein Unwetter verliert er alle seine Kinder: sieben Töchter und drei Söhne. Was muss das für eine unaussprechliche Trauer und was für ein Schmerz gewesen sein! Und schließlich wird er auch noch schwerkrank: eiternde Geschwüre brechen an seinem ganzen Körper auf. Und das, obwohl er ein Mann war, der auf Gott vertraute und immer zu ihm gebetet hatte. Und dann kommt noch ein weiterer Schmerz: jetzt wo er so im dunklen Loch sitzt, lassen ihn auch noch seine Lieben im Stich. Wie schlimm muss das sein, wenn meine engsten Bezugspersonen mich in meiner Not allein lassen und sich sogar gegen mich stellen. Hiob muss es erleben: seine Geschwister, seine Verwandten und sogar seine Frau wenden sich angewidert von ihm ab. Ja, sie wünschen ihm, dass er sterben kann. Aber war es das, was Hiob wollte? Sterben?

Wahrscheinlich gab es Stunden, in denen genau das der Fall war, in denen auch er nicht mehr konnte und nur noch eines wollte, nämlich dass sein Leiden irgendwie zu Ende ist und sei es durch den Tod. Aber eigentlich wollte er etwas Anderes. Da war eine andere Sehnsucht in ihm. Er wollte leben! Und er wollte vor allem im Reinen sein mit seinem Gott, den er nicht mehr verstand. Mit dem er haderte und stritt. An dem er hing und den er über sich wusste. Den er aber jetzt nur noch als seinen Feind erlebte. Warum das alles? Diese Frage trieb ihn um. Und warum haben sich jetzt auch noch alle anderen gegen mich verschworen? Gibt es denn gar keine Hoffnung mehr? Damit sind wir beim Bibelabschnitt für den heutigen Sonntag. Er wurde neu in die Reihe der Predigttexte aufgenommen. Wir hören aus dem Buch Hiob, Kapitel 19, die Verse 19–27:

Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt.
20 Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon.
21 Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen!
22 Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch?
23 Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift,
24 mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!
25 Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben.
26 Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen.
27 Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Liebe Gemeinde,

Warum? Diese Frage steht mit Hiob im Raum.

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.« So brüllt auch der Beter von Psalm 22 seine Not hinaus und in Psalm 13 fragt er verzweifelt: »HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?«

Diese Fragen sind uralt. Immer wieder werden sie
gestellt. Auch von »frommen« Menschen, die sich an Gott halten. Von Hiob bis heute.

Warum geschieht mir das? Will er mich prüfen? Will er wissen, ob ich nur in guten Tagen zu ihm halte?

So könnte man ja denken. Denn wenn es uns gut geht, wenn wir alles haben, dann fällt uns Dankbarkeit gegenüber Gott nicht wirklich schwer. Was ist aber, wenn uns die Not überfällt, wenn sie uns überwältigen will? Was ist dann mit unserem Glauben? Hält die Beziehung zu Gott auch dann, wenn es dunkel um uns wird?

Die erstaunliche Antwort durch die ganze Bibel ist: Ja, sie hält. Menschen halten an Gott fest, auch im Leiden. Die Psalmbeter tun dies und auch Hiob hält an Gott fest. Er sagt sich nicht von ihm los. Aber es ist ein Ringen. Es ist ein Kampf. Bis an die Grenzen der Kraft. Hiobs Lob verwandelt sich in Klage. Er klagt Gott seine Not. Er fordert ihn heraus. Er schreit Gott seinen Schmerz ins Gesicht. Und ich möchte den Notleidenden unter uns mutmachend sagen: Auch die Klage gehört zum Glauben. Ganz unbedingt! Klagen ist etwas anderes als Jammern. Jammern ist in der Regel ein Drehen um sich selbst. Klagen ist zielgerichet an ein Gegenüber. Hiob kann nicht mehr. Er klagt sein Leid, aber gerade so hält er fest an der Beziehung zu ihm. »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Hören wir, wie der Beter trotz seiner Frage nach dem Warum an Gott festhält: Mein Gott, mein Gott! Nicht irgendein Gott, sondern der Gott, zu dem ich eine Beziehung habe, die aber gerade durch eine tiefe Krise geht. Aber die Beziehung ist da und bleibt da. Sie wird durch die Krise nicht zerstört. Du bist mein Gott, trotz allem Schrecklichen, was mir widerfahren ist.

Wer von diesem Gott im Innersten ergriffen ist, der bliebt auch in großer Not bei diesem Gott. Der wendet sich in seiner Not an ihn. Der schreit zu ihm: »Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir, Herr höre meine Stimme!« Das wünsche ich uns allen sehr, dass wir daran festhalten, dass wir in all unserer Klage dennoch sagen können: mein Gott und mein Herr!

Und wenn Gott schweigt? Wenn er nicht antwortet, wenn sich trotz Klagen und Weinen, trotz Bitten und Flehen nichts ändert? Was dann?

Dann kann leicht der Gedanke aufkommen, dass Gott uns strafen will. Die Freunde von Hiob denken so. Da muss es doch einen Grund geben, dass es Hiob so schlecht geht. Und bevor wir die Freude vorschnell kritisieren wie so viele es schnell tun, möchte ich sie auch erstmal loben: Sieben Tage lang haben sie bei Hiob ausgeharrt, sein Klagen angehört, mit ihm geweint und gehofft. Das wird oft überlesen. Wer von uns nimmt sich heute noch so viel Zeit für einen kranken Freund?

Und doch sind die Freunde bei allem lobenswerten Verhalten der festen Überzeugung: irgendetwas stimmt doch bei Hiob nicht. Und sie laufen da in eine Falle, in die wir als Christen auch oft tappen. Wir versuchen, Gott und sein Verhalten zu erklären. Und suchen dann die Schuld beim anderen. Da wird manchmal gesagt: ihr müsst halt mehr glauben und mehr beten. Und dann entsteht da ein großer geistlicher Druck und wenn nichts passiert, gibt man sich selbst noch mehr die Schuld. Oder man versucht zu trösten, indem man sich etwas zurechtlegt. „Nur die besten sterben jung“, stand mal auf der Todesanzeige eines 18 – jährigen, die seine Mitabiturienten verfasst hatten und wo ich die Familie nach einem tödlichen Verkehrsunfall begleitet habe. Woher wissen wir solche Sätze eigentlich? Manchmal erschrecke ich, wie gut wir Schreckliches Geschehen und sogar Gott erklären können und ihn damit für uns aushaltbar und handhabbar machen. Dann haben wir vielleicht eine feine theologische Erklärung, aber die hilft oft den Betroffenen gar nicht, sondern verletzt sie bloß noch mehr. Und als Begleitende verschanzen wir uns hinter unseren frommen Glaubenssätzen, nur weil wir den Schmerz des anderen nicht aushalten können. Weil wir uns nicht eingestehen, dass uns jetzt auch die Worte fehlen. Weil wir es nicht schaffen, vielleicht einfach nur mit zu weinen und still zu beten.

Krankheit und Leiden auszuhalten bei sich selbst und auch bei der Begleitung von anderen gehört zu den schwersten Aufgaben. Die Leidenden wollen oft gar nichts von uns hören. Sie wollen oftmals nicht unsere Worte. Sie wollen unser Dasein. Unser Aushalten. Stärke zeigt sich im Dasein, wo alle anderen weglaufen.

Das Leid erklären wollen: auch Hiob selbst ist teilweise in diesem Ursache- Wirkung Denken verhaftet und zermartert sich das Hirn. Habe ich etwas falsch gemacht? Ist da etwas, mit dem ich Gott erzürnt haben könnte, so dass er sein
Angesicht verbirgt? So erforscht er sich selbst und er sucht bei sich eine Schuld.

Aber bei Hiob, den die Bibel selbst als Gerechten bezeichnet, geht diese Gleichung nicht auf. Und auch bei Gott stimmt diese Gleichung nicht. Es ist eben nicht so, dass es denen, die Böses tun, auf dieser Erde schlecht gehen muss. Im Gegenteil. Manchmal lässt Gott zu, dass gerade sie ein Leben führen können in Saus und Braus. Lesen wir einmal Psalm 73. Da heißt es:

Denn ich ereiferte mich über die Ruhmredigen,
da ich sah, dass es den Frevlern so gut ging.
4 Denn für sie gibt es keine Qualen,
gesund und feist ist ihr Leib.
5 Sie sind nicht in Mühsal wie sonst die Leute
und werden nicht wie andere Menschen geplagt.
6 Darum prangen sie in Hoffart
und hüllen sich in Frevel.
7 Sie brüsten sich wie ein fetter Wanst,
sie tun, was ihnen einfällt.
8 Sie höhnen und reden böse,
sie reden und lästern hoch her.

Auch glaubende Menschen werden in tiefes Leid gestürzt und es hat nichts mit einer Strafe Gottes zu tun. Gott lässt eben auf der einen Seite seine Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte und wo sich auf der anderen Seite der Himmel verfinstert, wo jemand in tiefstes Leid gerät, da haben wir keinerlei Recht zu urteilen.

Warum müssen an Gott glaubende Menschen mitunter so viel leiden? Eine Antwort darauf erhält Hiob nicht. Und eine Antwort darauf habe ich in dieser Predigt auch nicht. Ich werde sie nachher ohne Lösung dieser Frage nach Hause lassen. Weil das in einer Predigt gar nicht geht. Wenn wir überhaupt eine Antwort auf diese Frage bekommen, dann wird das eine ganz persönliche sein. Dann kann es gelingen, dass diese sich in vielen Einzelgesprächen in der Seelsorge ein Stück weit entwickelt. Aber es gibt keine Antwort, die für jeden hier im Kirchenraum gilt. Wir finden auf die Warum Frage keine einfache Lösung. Das auszuhalten ist schwer. Für Sie und für mich auch. Das ist auch ein Stück Passionsgeschichte, die uns da auferlegt ist. Hiob weiß allerdings: sein Elend kommt von Gott. Er muss erleben, dass Gott ihm wie zu einem Feind geworden ist. Er kann es nicht anders sehen: Es ist Gott selbst, der ihn verfolgt und zerbricht. Das macht ihn schier verrückt. Das hält er fast nicht aus. Und doch gibt es für ihn nur einen Weg. Es ist der Weg zurück zu der einzigen Hoffnung, die er hat. Und das ist, so verrückt das klingt aus dem Mund eines Mannes, der so mit Gott kämpft, niemand anders als Gott selbst. Er flieht von Gott zu Gott. In seinem extremen Leiden, in dem er Gott nicht mehr begreift, hält er fest an seinem Vertrauen in diesen Gott. In der Ungewissheit seiner Existenz hält er fest an der Gewissheit, dass da dieser eine Gott ist, der ihn aus all seiner Not erlösen wird. »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt«.

Woher Hiob diese Gewissheit nahm? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dies ein weiteres tiefes Geheimnis des biblischen Glaubens ist. In diesem Geheimnis des Glaubens geht es nicht um ein letztes Begreifen, um eine schon hier verständliche Antwort auf die Frage: Warum?

In diesem Geheimnis des Glaubens geht es darum, dass das Vertrauen in den gnädigen und barmherzigen Gott größer sein darf als alles Erschrecken vor dem gleichen Gott, den wir manchmal so ganz und gar nicht verstehen können.

Wenn nun schon Hiob dieses Vertrauen hatte, um wie viel mehr können wir diesem Gott vertrauen, der uns in Jesus in sein Herz hat sehen lassen.

Wenn schon Hiob überzeugt war, dass sich Gott zu ihm stellen wird, dass er ihn sehen wird, mit seinen eigenen Augen: Um wie viel mehr können wir, die wir zwar jetzt noch mitten in der Passionszeit sind, aber um Ostern und die Auferstehung der Toten wissen, um wie viel mehr können wir sagen und bekennen: Ich weiß zwar nicht warum das alles hier geschieht. Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt.

Eines weiß ich: Mein Herr lebt und mit ihm auch ich. Er lässt mich nicht im Stich. Ich selbst, mit allem was meine Person ausmacht, ich werde ihn sehen und er wird mich erlösen, aus aller meiner Not. Dass das jemand glauben und bekennen kann, das liegt nicht in unserer Macht. Das ist ein Geschenk von Gott.

Zum Schluss möchte ich noch ganz bruchstückhaft zusammenfassen, wie wir eventuell Menschen begleiten können, die sehr Schweres durchgemacht haben. Das erste, was ich mitnehme, lerne ich von den drei Freunden: dem Leidenden nicht ausweichen, sondern besuchen oder zumindest danach fragen, was dem anderen jetzt gerade gut tun würde.

Wir können mit dem anderen zusammen Gott unser Leid klagen. Wir können für den Leidtragenden beten. Entweder mit ihm zusammen oder im stillen Kämmerlein in Form der Fürbitte für den anderen.

Wir hören zu, wenn der Leidende redet. Und wir dürfen auf den Herrn verweisen, dem seit seiner Passionsgeschichte kein Leiden fremd ist. Jesus hat selbst am Kreuz gebetet: „mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ So dürfen wir auch beten, fragend und klagend, mit Gott ringend und doch im tiefsten Grund an Gott klammernd.

Es gibt nicht nur so etwas wie Fürbitte, es gibt in Notsituationen auch so etwas wie »Für-Glauben«. Ein daran Festhalten, dass Gott aus aller Not erlösen wird, auch wenn die Kraft des anderen zu Ende geht. Es gibt eine Hoffnung, in die wir den anderen mit hineinnehmen dürfen. Eine Hoffnung auf Gottes Erbarmen und auf die Erlösung durch ihn. Sie hilft, das Leiden auszuhalten.

Die Frage nach dem „Warum?“ werden wir dadurch nicht beantworten können. Wo wir aber die Not unseres Nächsten so mittragen, da behält das Leiden nicht das letzte Wort. Da dürfen wir sicher sein.

Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Straße 18, Tel: 0921/41168