Predigt: Joh. 13,21-30 vom 21.02.2021

Liebe Gemeinde,

mit diesem Sonntag treten wir ein in die Passionszeit, die Zeit der Vorbereitung auf das Leiden und Sterben Jesu. Es ist keine einfache Zeit. Zumindest für die nicht, die sich der Botschaft der Passionszeit stellen und sich hinterfragen. In der württembergischen Landeskirche ist dieser Sonntag schon sehr lange als Landesbußtag bezeichnet. Mich hat das immer mehr überzeugt, noch stärker nach der Abschaffung des Buß und Bettags im November vor inzwischen 25 Jahren. Ja, die Passionszeit ist eine Zeit des Innehaltens, der Positionsbestimmung und der Umkehr, wo nötig. Das bezeichnet die Bibel mit dem alten Wort Buße. Und Buße ist Gnade. Denn am Ende der Buße steht ein Neuanfang. Was gewesen ist, darf dich nicht mehr belasten und was kommt, darf dich nicht schrecken. So bekommen wir es immer wieder von Gott zugesprochen und das ist ganz tiefe und große Gnade.

In dem Predigttext heute hören wir, wie schlimm es ist, wenn wir nicht mehr umkehren. Welche unseligen Folgen das haben kann. Jahrzehntelang, ja vielleicht noch länger hat man über diesen Text nicht öffentlich in den Gottesdiensten gepredigt. Vielleicht hat der Mut gefehlt. Vielleicht hat man sich nicht getraut, weil dieser Text nicht 1:1 mit einem lieben Gott und der gängigen Vorstellung, die wir uns da von ihm machen, übereinstimmt. Erst Ende 2019 mit der Neuordnung und auch teilweise Neuausrichtung unserer Predigttexte kam der Predigttext von heute in die Liste der offiziellen Predigttexte. Und fordert heraus.

So, jetzt habe ich Sie genug gespannt gemacht! Wir hören auf den Bibeltext, wie er uns in Joh. 13, 21-30 überliefert ist:

Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.
22 Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete.
23 Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb.
24 Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete.
25 Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist's?
26 Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.
27 Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald!
28 Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte.
29 Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!,
30 Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.

Was für eine Bandbreite an einem Tisch. Der eine Jünger liegt an der Brust von Jesus. Der andere geht schließlich hinaus in die Nacht. Und dazwischen alle anderen Jünger, die sich selbst und dem anderen nicht mehr trauen und verunsichert fragen: Wer ist es, der Jesus verrät?

Schauen wir uns die Situation genauer an: Jesus und seine Jünger sind zusammen – sie essen und trinken. Aber – es ist ihnen nach allem Anderen zumute als nach Feiern und guter Laune. Ein bedrohlicher Schatten hatte sich über sie alle gelegt. Jesus wurde gesucht, verfolgt, gar mit Verhaftung und dem Tod bedroht. Und die Jünger? Sie hingen mit drin. Eine Schicksalsgemeinschaft war das geworden, was als Lehrer-Schüler Beziehungen begonnen hatte. Bedrohung von außen – das lässt zusammenrücken – normalerweise. Aber hier? Ein Satz von Jesus – und es war, als sei ein Tropfen Gift gefallen. Misstrauen gesellte sich zu der Angst vor dem, was kommen würde. „Einer von Euch wird mich verraten!“ Leise und ohne Vorwurf sagte der Meister das. Eine Feststellung, eingeleitet mit dem doppelten Wahrlich! Also sicher kein Versehen – mal eben so daher gesagt. Nein – hier geht es um unumstößliche Gewissheit. „Einer von Euch“ – aber wer? Matthäus deutet in seinem Evangelium anders als hier bei Johannes an, dass in dem Moment alle spürten: Ich könnte es sein! Sie erschraken. Was war das für ein Verrat an Jesus, der jedem von ihnen so nah am Herzen lag?

Man kann ja Menschen auf unterschiedliche Weise enttäuschen. Man kann jemanden in der Not allein lassen, im Stich lassen. Das ist schlimm. Vielleicht hast du das schon mal erlebt, dass Du dich auf jemanden verlassen hast und am Ende hat er oder sie dich verlassen. Ganz bitter! Und trotzdem: Im Stich gelassen zu werden, hätte Jesus wohl kaum so erschüttert. Dass es dazu kommen wird, das wusste er doch. Den Weg, den er zu gehen hatte, der musste allein gegangen werden.

Im Stich lassen, wegducken, Petrus hat das später im Gerichtshof gemacht. Er hat behauptet, er kenne Jesus nicht. Das ist feige. Ich kenne den Petrus in mir, Sie auch?

Das alles war enttäuschend für Jesus, aber noch kein Verrat. Verrat – das ist: sich aktiv gegen den Weg Gottes stellen. Etwas tun, was das Unheil herbeiruft. Hingehen, den Verfolgern den entscheidenden Tipp geben. Das hat noch eine ganz andere Qualität als Schweigen aus Angst und verleugnen. Verrat das hat Judas getan.

Aber was steckt hinter diesem Verrat theologisch? Ich möchte versuchen, es an den zwei Bitten des Vaterunsers klar machen: „Dein Reich komme“ und „Dein Wille geschehe“. Dein Reich komme, das war das Anliegen von Judas. Das wollte er erleben. Aber vor allem irdisch und politisch gegen die Übermacht der Römer. Und diese politische Ansicht sah er jetzt in Gefahr. Dem Reich Gottes hier schon auf dieser Welt wollte er nachhelfen und wurde vor lauter Eifer dabei zum Verräter. Das ist bitter! Alle Frömmigkeit, alles Beten schützte ihn nicht vor dem Verrat. Vor lauter religiösen Eifer hat er eine andere Bitte des Vaterunsers aus dem Blick verloren. Die Bitte: „Dein Wille geschehe“. Das wollte Judas nicht. Abwarten? Das hielt er nicht aus. Dabei war es gerade diese Bitte, die Jesus so wichtig war. Wenig später bat Jesus genauso – im Garten, als er um die Kraft zum Weitergehen rang: Dein Wille geschehe! Wer so betet, ist nicht entlassen aus der eigenen Verantwortung. Sondern der muss selber einwilligen in das, was Gott tut. Dein Wille geschehe, das heißt: darauf vertrauen, dass Gott es schon richtig machen wird auch dann, wenn es zunächst allem Anschein nach gegen die eigenen Vorstellungen geht.

Das hat Judas nicht geschafft. Er wollte seine Ziele durchsetzen. Und gibt sich damit dem Bösen hin.

Er unterliegt nicht einem göttlichen Zwang zum Bösen, sondern hat sich hineinziehen lassen und erlebt an sich die abgründige Dynamik mit der Satan Menschen an sich bindet. Dass der Verrat schon bei den Propheten angedeutet wird, entbindet Judas nicht seiner eigenen Verantwortung. Gott hat den Überblick über den ganzen Lauf der Geschichte, deshalb weiß er im Voraus, wie sich Menschen entscheiden werden.

Das eigentlich Satanische bei Judas ist, dass er dann nicht mehr zurückfindet zu Jesus. Petrus hatte Jesus verleugnet, auch ein ganz schlimmer Vertrauensbruch – ein ganz großes Versagen. Aber Petrus erkennt sein Versagen. Er gesteht sich ein, dass er es nicht mehr gutmachen kann, sondern nur noch auf Gottes Erbarmen zählen kann, deshalb weint Petrus. Als Judas seinen Fehler erkennt, möchte er diesen aus eigener Kraft wieder zurechtbiegen. Er meint: Das kann ich selber regeln. Er geht hin zum Hohen Rat und redet mit ihnen in der Meinung: Ich kann die überzeugen. Aber das prallt an denen ab. Das treibt Judas in die Verzweiflung. Judas findet keinen Raum zur Buße, zur Umkehr.

Dieser Vorgang ist für uns ganz entscheidend: Wichtig ist, dass wir unsere Fehler eingestehen – und erkennen, gerade auch dann, wenn wir sie selbst nicht wiedergutmachen können. Wichtig ist zu erkennen, dass wir Gott und sein Erbarmen brauchen. Dass wir Jesus um Vergebung und um einen Neuanfang bitten. Wie viel Unheil entsteht dadurch, dass Menschen unfähig sind, ihre eigenen Fehler einzugestehen, evtl. sogar darüber zu weinen – und vor allem zu erkennen: Da komme ich nicht alleine raus. Ich brauche Gottes Erbarmen. Nur er kann mir helfen. Viel Leid im persönlichen Leben könnte erspart bleiben, wenn der Petrusweg gegangen würde: Zu den Fehlern stehen, auch dazu, dass man da nichts mehr zurechtbiegen kann, und nur noch auf Gottes Erbarmen zählen kann. Jesus verweigert sich keinem, der ihn um sein Erbarmen bittet.

Auch in unserem Staat sähe vieles hoffnungsvoller aus, wenn der Mut vorhanden wäre, Fehlentscheidungen einzusehen und im Gottvertrauen um Lösungen zu ringen. Es ist wichtig, dass wir bei den Irrungen und Wirrungen unseres Lebens den Petrusweg beschreiten und nicht den Judasweg. Der Judasweg der Selbstrechtfertigung und des sich selbst erlösen wollen, führt in die Tiefe. Der Petrusweg führt himmelwärts.

Der Judasweg treibt Jesus um. Weil er weiß, dass er nicht zum Ziel führt. Er leidet mit – auch mit Judas. Jesus ringt um Judas. Er gibt ihm sogar das erste Stück des Gemeinschaftsmahles, das ihn als Ehrengast auszeichnet. Judas hätte hier wohl noch die Chance das Ruder rumzureißen und sich neu mit seiner ganzen Person Jesus zuzuwenden. Aber da ist er wohl schon zu sehr besessen von dem Gedanken, dass er Macht über Jesus gewinnen kann, indem er Jesus den Feinden in die Hände spielt.

Mich bewegt das: Jesus reicht auch Judas das Brot. Er schließt ihn gerade nicht aus seiner Gemeinschaft aus. Dass es die dunkle Macht gibt – das war für Jesus keine Frage. Auch Petrus hat er einmal das auf den Kopf zugesagt: Geh weg, Satan! Und hat doch die Beziehung zu Petrus nicht aufgekündigt. Für ihn ist auch der, der Böses tut, nicht verloren, nicht verdammt. Selbst Judas nahm am Abendmahl teil. Er war nicht schlechter als alle anderen auch.

Und wir? Wo sitzen wir am Tisch Jesu? Wir sitzen zugleich auf beiden Seiten: Ich sage es mal sehr hart: Wie Judas und alle Jünger sind auch wir Verräter. Dort, wo wir nicht einstimmen in den Willen Gottes. Dort wo wir meinen, es selber doch besser zu wissen. Dort, wo wir uns selbst zu erlösen versuchen. Jesus wird immer da verraten, wo wir eigene Wege gehen. Und doch bleibt Judas in der Tischgemeinschaft. Jesus schickt ihn nicht weg. Judas geht von allein. Das ist ein großer Unterschied. Jesus liebt den Sünder, auch den Judas. Wenn wir an den Tisch Jesu treten, reicht er uns das Brot und den Wein – selbst wenn wir ihn hundertmal verraten haben – und es wieder tun werden.

Und wir sitzen auch auf der anderen Seite des Tisches, da wo Jesus sitzt, auch wenn wir natürlich nicht Jesus sind. Aber wenn auch deutlich abgeschwächt, erleben wir wie Jesus auch Schmerz und Verletzungen. Wo immer Menschen uns Unrecht tun – auf welche Weise auch immer. Wo es uns schmerzt, weil einer, der uns nahesteht, uns nicht versteht oder den Glauben lächerlich macht. Wo sich Menschen in unserem Umfeld verrennen und sich um keinen Preis in die Hände Gottes begeben können. Wo wir uns manchmal fragen: was für eine dunkle Macht treibt den gerade an? So was geschieht. Und das ist mühsam. Und schmerzlich.

Und es war Nacht – mit diesem Satz endet diese Geschichte. Manchmal hat man den Eindruck, die Nacht des Verrates endet nie und wir sind Teil davon. Ja, es ist wahr, wie es in einem Lied heißt: in die Nacht der Welt hast du uns gestellt. In die Schuld der Welt hast du uns gestellt. In den Streit der Welt hast du uns gestellt. In das Leid der Welt hast du uns gestellt. Es ist Nacht und dunkel. Und gerade deshalb immer wieder die Bitte, auch in der beginnenden Passionszeit: „Herr, wir bitten: komm und segne uns; lege auf uns deinen Frieden. Segnend halte Hände über uns. Rühr uns an mit deiner Kraft.“ Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/41168