Predigt am 03.01.2021 in der Kreuzkirche: Lk. 2, 41-52

Liebe Gemeinde,

vor wenigen Tagen haben wir Weihnachten gefeiert und das Jesuskind ist uns noch gegenwärtig. Heute geht es um den Jesus mit 12 Jahren. Wir machen also einen zeitlichen Sprung von zwölf Jahren. Unser Predigttext heute ist die einzige Geschichte, die uns über den heranwachsenden Jesus erzählt wird. Und wir finden sie auch nur im Lukasevangelium, nicht in den anderen Evangelien. Ich finde das spannend. Unser Simon wird im Februar 10 Jahre alt und das ist gar nicht so weit weg von 12 Jahren. Da kann ich mich ziemlich gut hineinversetzen in die Situation damals. Kennen Sie auch einen oder eine Zwölfjährige? Oder erinnern Sie sich vielleicht selbst noch daran, wie Sie so getickt haben, als Sie zwölf waren, so kurz vor dem Konfirmandenalter?

Im Lukasevangelium erfahren wir von der Reise des zwölfjährigen Jesus nach Jerusalem zum Passafest mit seinen Eltern Maria und Josef.

Wir hören auf den Predigttext für heute: Lk. 2, 41-52:

Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest.
42 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.
43 Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten's nicht.
44 Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten.
45 Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn.
46 Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte.
47 Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.
48 Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
49 Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?
50 Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte.
51 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.
52 Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

Wir kennen Jesus als kleines Kind in der Krippe und als Erwachsenen. So ist er uns vertraut. Der jugendliche Jesus ist uns fremd. »Hatte Jesus auch Stress mit den Eltern?«, »Hat er auch mal Streiche gespielt?«, »Hat er sich auch mal das Knie aufgeschlagen oder lag mit Fieber im Bett?« – so fragen manchmal Kinder. Und was antworten wir? Ich würde antworten: Ja, das hat er! Ja, er war genauso Zwölfjähriger wie unsere Siebtklässler. Jesus war ganz und gar Mensch. Das heißt auch: er war ein normaler jüdischer Junge, ein Jugendlicher wie unsere Konfirmanden. Und er war Sohn von Eltern, bei denen nicht immer alles glatt ging. Josef und Maria haben sicher vieles gut gemacht in der Erziehung, aber sie haben bestimmt auch Fehler gemacht. Mag sein, dass das die evangelische Perspektive auf Maria ist, das gebe ich als evangelischer Pfarrer gerne zu. Aber mir rücken die beiden dadurch deutlich näher und ich kann mich mit ihnen identifizieren. Und so eben auch mit Jesus.

»Er kommt aus seines Vaters Schoß und wird ein Kindlein klein, er liegt dort elend, nackt und bloß in einem Krippelein. Er äußert sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding, der Schöpfer aller Ding.«, so heißt es in dem Weihnachtslied »Lobt Gott, ihr Christen alle gleich« (EG 27, 2.3). Und zu dieser Menschwerdung gehört das körperliche Wachstum genauso wie die seelische Entwicklung vom Kind zum Mann – mit allen Auseinandersetzungen und auch Freuden der Jugendzeit. Lukas berichtet später, wie Jesus sich 30 Jahre lang einem Leben in kleinen Verhältnissen unterordnet. Er lernt einen Beruf, hilft der Familie und lernt die Traditionen seines jüdischen Volkes kennen. Der Gottessohn wird ganz Mensch.

Und es passiert eine ganz menschliche Geschichte, wie sie vermutlich fast alle Eltern schon mal erlebt haben: das eigene Kind gerät aus dem Blick.

Lukas erzählt, dass Maria und Josef jedes Jahr nach Jerusalem zum Passafest gehen, wie es einem Juden vorgeschrieben ist. Sie nehmen ihren zwölfjährigen Sohn mit. Mit 12 oder 13 Jahren wurde der junge Jude religionsmündig. Bis heute heißt er dann »Bar Mizwah«, »Sohn des Gebotes«.

Auf dem Heimweg geht die fröhliche Stimmung in der Familie Josefs jedoch verloren. Denn der Junge ging verloren. Der Junge tut, was viele Jungen tun: Er geht auf eigene Entdeckungstour. Es drängt ihn – der Heilige Geist drängt ihn – in Jerusalem länger zu bleiben und sich mit Schriftgelehrten zu unterhalten und die Heilige Schrift zu studieren. Ja, der Heilige Geist redet auch schon mit 12 – jährigen. Ich habe mal ein Jahr lang in der Schweiz Kinderfreizeiten mitleiten dürfen in Gemeinden, Zeltplätzen und Schwimmbädern. Und ich habe erlebt, dass auch Kinder schon zum Glauben kommen und eine Wiedergeburt erleben können. Dass wir doch als Eltern auch damit rechnen bei unseren eigenen Kindern und das auch erbitten. Dazu ist es nie zu früh.

Aber zurück zu der Begebenheit damals in Jerusalem: der Schrecken bei den Eltern sitzt tief. Jesus muss doch irgendwo sein. Sie suchen ihn bei den Verwandten. Sie fragen jeden, den sie treffen. Sie gehen den ganzen Weg wieder zurück bis nach Jerusalem. Eine ganze Tagesreise, acht Stunden? Habt ihr schon mal acht Stunden einen lieben Menschen gesucht? Und dann müssen sie ihn noch drei Tage in Jerusalem suchen. 36 plus 8, also 44 Stunden. Das werden schlaflose Nächte und aufgeregte Tage für die Eltern gewesen sein. Ich glaube, ich wäre vor Angst schier verrückt geworden, wenn ich Maria und Josef gewesen wäre. Und dann finden sie ihn nach drei Tagen im Kreise von Lehrern, wohl im Vorhofbereich des Tempels.

Wie kommt das, dass diese ihn nicht gleich weggeschickt haben? Rabbinen schenkten auch Kindern größte Aufmerksamkeit und ließen sich in Wechselreden mit ihnen ein wie mit ihresgleichen. Im Judentum versteht sich ein Lehrer selbst immer als Lernender. Zeitlebens wird Jesus diesen Gelehrten Respekt schenken. Auch in der Religionspädagogik wurden Kinder in den letzten Jahrhunderten immer wieder als kleine Theologen bezeichnet. Das mag überzeichnet sein und gleichzeitig ist da schon ein Wahrheitsgehalt dran. Meine Kinder haben mir mit ihrem kindlichen Glauben schon für manches die Augen geöffnet.

Maria und Josef aber sitzt der Schrecken der langen Suche in ihren Gliedern. „Kind, wie konntest du uns das antun! Wir hatten Angst um dich!“ Max Ernst hat 1926 ein provokantes Bild gemalt mit dem Titel: die Jungfrau züchtigt das Jesuskind. Darauf wird Maria gezeigt, wie sie Jesus den Hintern versohlt. Das ist natürlich provokant, aber es macht eben deutlich: Das Verhalten von Jesus damals schon provoziert.

Auf Marias Vorwurf antwortet Jesus auch provozierend, fast schon pubertär: »Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was
meines Vaters ist?« Damit gibt Jesus seinen Eltern klar zu verstehen, dass die Beziehung zum himmlischen Vater ihm über die Familie geht. Es geht Jesus um lebendige Verbundenheit mit Gott als Vater. Es geht ihm um ein Zuhause sein in Gott.

Die Antwort Jesu muss einen Stich durchs Herz der Eltern ausgelöst haben. Ihnen wurde klar: Ich habe mein Kind nur auf Zeit. Es ist mir nur anvertraut – und das weiß es selbst auch!

Wer pubertierende Kinder begleitet oder begleitet hat, weiß, wie hart es sein kann, wenn die innige Eltern-Kind-Beziehung nach und nach aufgebrochen wird. Auch Jesus entfernt sich von seinen Eltern. Er sucht sich andere Menschen, die ihm vom Leben mit Gott erzählen. Das ist normal und wichtig. Sind wir doch nicht gleich gekränkt, wenn unsere heranwachsenden Kinder das auch tun. Machen wir uns auch nicht gleich Selbstvorwürfe in dem Sinn, wir hätten als Eltern versagt oder etwas falsch gemacht. Nein, liebe Eltern unter uns: ihr habt es gut gemacht mit euren Kindern! Ihr seid gute Eltern! Das muss einem mal gesagt werden. Ich weiß noch wie gut es meiner Frau und mir getan hat, als wir als noch frische Eltern und in vielen Dingen unsicher waren. Nach 30 Jahren war es das erste Mal, dass wieder eine Familie im Pfarrhaus gegründet wurde. Viele Leute haben es gut gemeint und uns allerhand geraten. Und dann war mal ein Ehepaar da, die haben uns gar nichts geraten. Die haben und einfach mal gesagt: ihr macht das gut! Der Satz hat sich mir so eingebrannt, dass ich ihn noch zehn Jahre später weiß. Viele Ratschläge aber von damals habe ich längst vergessen. Wie schnell wird man als Eltern kritisiert und steht unter großem Druck, vielleicht sogar in der eigenen Gemeinde. Wir wollen doch als Eltern alle das Beste für unsere Kinder. Was würden wir nicht alles tun für unsere Kinder! Wir lieben Sie tief und innig und wir wollen das Beste für sie, auch wenn wir immer wieder scheitern. Liebe Eltern unter uns: bei allem schuldig werden, das nicht ausbleibt: ihr macht es gut und ihr habt vieles schon gut gemacht in der Erziehung eurer Kinder.

Und zu diesem gut machen als Eltern gehört eben auch- und das ist sehr herausfordernd - dass wir das Loslassen lernen. Aber eben nicht das Loslassen irgendwohin, sondern das Loslassen an Gott. Eigentlich haben wir das in der Taufe schon getan, haben unser Kind Gott anvertraut. Das wirkte damals fast noch wie in der Theorie, weil die kleinen Kinder so unselbstständig waren. Aber dann im Laufe der Jahre wird es immer sichtbarer und praktischer. Als unsere Kinder damals im langen Pfarrhausflur in Kleinsachsenheim die ersten selbstständigen Schritte machten, hat das mich tief berührt und ich habe mir ganz bewusst gesagt: Jetzt beginnt das Loslassen ganz praktisch. Das Kind hat immer mehr meine Hand losgelassen und ging eigene Wege. Damals bin ich noch hinterhergeeilt, damit der Kleine nicht hinfällt. Aber nach und nach muss ich immer mehr Abstand halten und wahren. Was ich damals noch putzig fand bei den ersten selbstständigen Schritten, kann irgendwann zunehmend nervenaufreibend sein. Aber wir müssen es lernen. Dieser Härte muss ich mich als Eltern stellen, sonst werde ich schuldig an meinem Kind und an Gott. Unsere Kinder gehören Gott und nicht uns. Das durchzubuchstabieren erfordert viel Kraft, aber ist auch ein wunderbarer Trost. Übrigens auch bei jeder Hochzeit. Es wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hangen. Und umgekehrt genauso. Eine große Aufgabe für Eltern von erwachsenen Kindern. Eine Aufgabe, die durchaus Kraft und Schmerzen kostet, die aber unbedingt notwendig ist. Auch um die neue, junge Ehe zu schützen. Ich habe schon Ehen scheitern erlebt, weil der Einfluss der Eltern oder einer Seite zu groß gewesen ist.

Mir ist aber noch etwas Anderes aufgefallen an der Erziehung von Maria und Josef. Und zwar an ihrer religiösen Erziehung.

Maria und Josef wissen, wie wichtig es ist, dem Kind früh die Freude am Glauben zu vermitteln. Das tun sie mit dem eigenen Vorbild. Sie führen Jesus zum Tempel, wo er miterlebt, wie aufregend die Gemeinschaft mit Mitgläubigen sein kann. Sie zeigen Jesus die Wurzeln des Glaubens der Mütter und Väter. Maria und Josef zeigen Jesus ihre Glaubenswurzeln. Und sie geben ihm die Flügel, um flügge im Glauben zu werden und loszufliegen, raus aus dem Nest, um Gott selbst nahe zu sein. Das geht nur mit Vertrauen und Zutrauen in die Kinder. Und mit einer großen Portion Gottvertrauen.

Wie war das bei uns selbst? Wie und wo haben wir biblische Geschichten, Lieder und Gottesdienste kennengelernt? Hatte ich Vorbilder, gute Lehrer, die mich schon als Kind und Jugendlicher auf Augenhöhe wie einen Bruder, eine Schwester, ernst genommen haben? Und wenn ja: vielleicht ist es in diesen Tagen, wo viele frei haben, eine Gelegenheit, sich mal bei Ihnen zu bedanken?

Auch das können wir von den Eltern Jesu und den jüdischen Lehrern im Tempel lernen: Gute Gespräche von Älteren mit Jüngeren über den Glauben sind ein kostbarer Schatz. Die verschiedenen Generationen zusammen bilden das Rückgrat einer Gemeinde. Es geht nicht um eine Jugendkirche und auch nicht um eine Seniorengemeinde. Auch nicht hier im Kreuz. Es geht um eine generationsübergreifende Gemeinde. Beide sollen einander wertschätzen, voneinander lernen und profitieren. Das fällt nicht immer leicht.

Über Mark Twain wird dazu eine nette Anekdote erzählt. Zu ihm kam einmal ein 17-järiger und erklärte: »Ich verstehe mich mit meinem Vater nicht mehr. Jeden Tag Streit. Er ist so rückständig, hat keinen Sinn für moderne Ideen. Was soll ich machen? Ich laufe aus dem Haus.« Mark Twain antwortete: »Junger Freund, ich kann Sie gut verstehen. Als ich 17 Jahre alt war, war mein Vater genauso ungebildet. Es war kein Aushalten. Aber haben Sie Geduld mit so alten Leuten. Sie entwickeln sich langsamer. Nach zehn Jahren als ich 27 war, da hatte er schon ganz vernünftige Ansichten. Und denken Sie mal, heute wo ich 37 bin, nochmal 10 Jahre später – ob Sie es glauben oder nicht – wenn ich keinen Rat weiß, dann frage ich meinen alten Vater. So können die sich ändern.«

Welchen Stellenwert geben wir den verschiedenen Generationen in unserer Gemeinde? Schätzen wir als Jüngeren den Erfahrungsschatz der Älteren? Und andersherum: Haben wir Achtung vor den jungen Leuten? Nicht von Ungefähr wurde der Konfirmandenunterricht für das Alter, in dem Jesus damals war, entwickelt. Dies ist eine wichtige Zeit in der Entwicklung des Glaubens. Wie oft überhören wir interessante Aussagen und versteckte Fragen der Jüngeren, übersehen ihr Empfinden gegenüber Gott? Maria versteht das Wort ihres Sohnes zwar nicht. Aber sie bewahrt es in ihrem Herzen. Sie war eine weise Frau und achtete auf solche Worte und Erlebnisse im Glaubensleben ihres Kindes. Ich möchte von ihr lernen im Umgang mit meinen eigenen Kinder, meinen Relischülern, meinen Konfirmanden, und anderen jungen Leuten, mit denen ich Kontakt habe.

Zum Schluss möchte ich mit Ihnen noch ganz kurz anschauen, was Jesu erstes Wort im Lukasevangelium ist und dann auch sein Letztes. Das erste uns überlieferte Wort lautet: Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?

Das ist Jesu Bekenntnis zu Gott als dem himmlischen Vater. Zum ersten Mal nennt Jesus hier Gott seinen »Vater«. Zum letzten Mal wird er ihn so am Kreuz anrufen: »Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!« Und als er das gesagt hatte, verschied er (Lukas 23, 46). Diese beiden Jesuworte umrahmen Jesu irdisches Leben im Lukasevangelium. Jesus bezeichnet Gott als seinen Vater. Wenn im Alten Testament Gott als Vater bezeichnet wird, dann in Bezug des Volkes Israel oder in Bezug auf die Schöpfung (2. Mose 4, 22). Aber in Bezug auf einen einzelnen Menschen nie! Dies wird als das Vorrecht des kommenden Messias ausdrücklich hervorgehoben
(Psalm 89,27). »Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?« sagt Jesus. »Mein Vater«. Das sind wegweisende Worte. Sie sind kennzeichnend für das, was Jesus uns allen bis heute ermöglicht: eine lebendige Beziehung zu Gott als unserem himmlischen Vater. Das ist etwas anderes als die Beziehung zu einem Herrscher oder die Furcht vor einem fernen Schöpfer. Jesus ermöglicht uns, Gottes Vaterherz zu sehen und als Kinder Gottes zu leben. Gott als Vater dürfen wir vertrauen. Wir sind seine Kinder. Und er wird für uns da sein. Er wird für uns sorgen. Auch im kommenden Jahr 2021. Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/41168