Predigt am Heiligen Abend 2020, Kreuzkirche Bayreuth, Text: Joh. 3, 16-21

Liebe Gemeinde,

In der Millionenstadt Tokio stromert ein kleiner Junge bettelnd und frierend durch die Straßen. Er spricht einen Europäer an und bittet um eine Gabe. Der nennt ihm eine Adresse, beschreibt ihm das Haus und sagt zu dem Jungen: „Wenn man Dir öffnet, sagst du einfach: Joh. 3, V. 16.

Der Junge wundert sich, aber er rennt los. Unterwegs murmelt er immer vor sich hin: Joh. 3, V. 16. Er findet die Straße und das Haus, klopft an und auf die Frage, was er wünsche, sagt er: Joh. 3, V.16. Der Junge wird hereingebeten, bekommt ein warmes Bad, neue Kleidung und ein gutes Essen. Als der Junge überglücklich das Haus verlässt, denkt er noch immer an die wunderbare Parole: Joh. 3, V. 16. In Gedanken versunken rennt er auf die Straße und wird von einem Auto angefahren. Bewusstlos wird er ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte behandeln ihn. Als er wieder aufwacht, fragen sie ihn nach seinem Namen. Er sagt nur immer: Joh. 3, V.16. Schließlich geben die Schwestern auf und schreiben auf das Schild an seinem Bett: Joh. 3, V.16.

Fragen Sie mich nicht, wie diese Geschichte weitergegangen ist. Ich weiß es nicht. Aber irgendwie gleicht unser Leben doch dieser Geschichte: Wir laufen durch die Straßen unseres Lebens. Und im tiefsten Grunde sind wir Suchende. Suchende nach Liebe. Suchende nach Geborgenheit, Suchende nach Trost. Suchende, vielleicht auch in dieser Stunde am Heiligen Abend. Steckt hinter all den Festvorbereitungen für die zweieinhalb Festtage jetzt im tiefsten Grunde nicht eine große Sehnsucht? Die Sehnsucht nach ein Stück heiler Welt? Und da kommt einer heute und sagt zu uns: Joh. 3, V. 16.

Es ist schon auffallend, dass der biblische Zusammenhang dieser Textstelle einen ganz ähnlichen Hintergrund aufweist. Da ist auch von einem Suchenden die Rede. Nikodemus, ein „Gscheitle“, eine religiöse Kapazität, ein „Vorzeigefrommer“ kommt zum erwachsenen Jesus. Er nutzt die Chance zu einem Vier- Augen Gespräch am Abend und fragt: „Du Jesus, von Nazareth, wir merken: an dir ist irgendetwas Besonderes. Du bist anders. Wir vermuten, Du bist von Gott gesandt. Aber irgendwie bist Du auch ein großes Geheimnis. Warum gibt es dich? Was willst Du eigentlich? Ich würde dein Geheimnis gerne durchdringen. Hilf mir doch, dich zu verstehen.“

Sind das nicht auch die Fragen, die heute im Raum stehen? Wer bist Du eigentlich, Jesus? Was ist das Besondere an Dir, an Weihnachten?

Die Antwort hören wir in Joh. 3, 16 und den Versen danach:

(16) Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
(17) Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.
(18) Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet. Wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.
(19) Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.
(20) Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.
(21) Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.

Joh. 3, V. 16: Also hat Gott die Welt geliebt. Vielleicht haben Sie diesen Vers schon x-mal gehört. Meine Konfirmanden müssen ihn sogar auswendig lernen. Denn er ist die Kurzform des ganzen Evangeliums. Evangelium- das heißt so viel wie „frohe Botschaft“, „gute Nachricht“.

Liebe Gemeinde, heute gibt es gute Nachrichten für uns. Und das ist nicht selbstverständlich.

Vielleicht haben Sie noch die Worte im Ohr vom Gericht, vom Richten Gottes, die ja auch in unserem Text zu lesen sind. Die können wir nicht einfach unter den stimmungsvollen Weihnachtsteppich kehren. Diese Worte sind nötig, weil wir eben nicht in einer heilen Welt leben. Und daran sind keineswegs immer die anderen schuld.

Und so möchte ich diese Predigt unter das bewusst doppeldeutige Stichwort stellen: der heruntergekommene Gott (2x).

Und den ersten Teil muss ich jetzt angesichts dieser Gerichtsworte wohl überschreiben: Gott ist bei uns heruntergekommen.

Ein unbequemes Wort am Heiligen Abend. Und doch gehört es unbedingt dazu. Fragen wir uns doch mal heute Abend: Kann es sein, dass bei uns Gott heruntergekommen ist? Unter die Räder gekommen? Da braucht man gar nicht sonderlich gottlos sein. Das geschieht manchmal ganz unbewusst. Gott kommt unter die Räder des Alltags. So geht es mir jedenfalls manchmal: Gott kommt unter die Räder des Alltags, der uns so gefangen nimmt mit seinen Aufgaben und Pflichten. Von morgens bis abends sind wir erfüllt mit Arbeit, mit Organisieren, mit Planen, mit Sorgen: da bleibt kaum Zeit mehr für Gott. Wir meinen es nicht böse mit Gott. Wir sind vielleicht gar nicht gegen ihn- wer will sich das eigentlich schon anmaßen? - aber für ihn sein? Das ist vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten, so höre ich es manchmal auch bei Begegnungen mit anderen Menschen.

Gott ist bei uns heruntergekommen. Vielleicht auch heruntergekommen zu einem selbstgemachten Gott, den wir uns nur noch bei Bedarf holen, so wie wir den Verbandskasten nur bei Bedarf holen, wenn es eine Verletzung gab. Gott als Trostpflästerchen. O, wie ist Gott bei uns heruntergekommen.

Gott ist bei uns heruntergekommen, wohl auch deshalb, weil er scheinbar so viele Konkurrenten bekommen hat. Zu viele und zu vieles spielt sich heute gottähnlich auf: Wir stehen in der Gefahr, Menschen zu vergöttern. Oder uns selbst zu vergöttern. Oder unseren Lebensstandard zu vergöttern. Und erschrecken in diesem Jahr, wie das alles plötzlich ins Wanken kommt. „Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.“ Liebe Gemeinde, das Gericht, von dem unser Text spricht, besteht nun nicht darin, dass Gott wie ein pingeliger Buchhalter alle Fehler unseres Lebens aufschreibt und uns irgendwann unter die Nase reibt- nein, wir richten uns selbst. Wir richten uns selbst, weil wir die Hand übersehen, die sich uns da entgegenstreckt --- die einladende Hand des heruntergekommenen Gottes (2x). Wir übersehen sie, auch in der aktuellen Coronapandemie. Bei aller weltanschaulichen Neutralität könnten auch Politiker neben allen politischen Maßnahmen durchaus zum Gebet rufen oder gemeinsam in einen Gottesdienst gehen und nicht am Sonntagvormittag eine Ministerrunde einberufen. Und auch wir Kirchen, ja vor allem ich selbst muss mich immer wieder kritisch fragen: Habe ich Menschen wirklich zum Gebet aufgerufen? Habe ich deutlich gemacht, dass durch diese Pandemie wir gefragt sind, unser Verhältnis zu Gott zu überdenken. Gerade in dem Sinn, dass uns aufgeht, wie heruntergekommen Gott eigentlich ist in unserem Leben und unserer persönlichen Frömmigkeit. Dass wir darüber auch mal erschrecken und uns das nicht nur egal ist.

Aber das ist nur der erste Teil der Wahrheit. Der zweite Teil ist mindestens genauso wichtig. Und der zweite Teil ist: Gott ist nicht nur bei uns heruntergekommen, nein: Gott kommt zu uns herunter. Auf diese Erde. Gott kommt zu uns herunter. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab“. Gott kommt zu uns. Nicht im bombastischen Getue und Getute, wie es die Herren dieser Welt nötig haben. Nicht mit viel Glanz und Glorie. Statt militärischer Ehren und Fahnen wehen bei ihm Windeln auf der Leine. Statt Fanfaren und Trompeten ertönt Kuhgebrumm. Gott kommt zu uns herunter und Krippe und Ochs und Esel sind die klägliche Kulisse für den Auftritt Gottes in unserer Weltgeschichte.

Daran können wir doch merken: Diesem heruntergekommenen Gott ist kein Raum dieser Welt zu hässlich, zu primitiv, um darin zu wohnen. Gott rümpft nicht die Nase über unsere Lebensumstände oder über uns selbst und sagt: „Der oder die ist mir nicht gut genug. Mit der will ich nichts zu tun haben“.

Nein Gott will gerade mitten in dein Leben hinein geboren werden. Mitten hinein in den Alltagsmief, der manchmal auf dir lastet. Mitten hinein in deine Trauer, weil du vielleicht in diesem Jahr einen lieben Menschen verloren hast und dir bange ist vor dem diesjährigen Weihnachtsfest und dem Jahr 2021. Gott wird in dein Leben hineingeboren: Mitten hinein in deine Sorgen um deinen Arbeitsplatz, um deine Wohnung, um deine Ehe, um deine Familie, um deine Gesundheit oder was dich sonst umtreibt.

Wir haben Gott oftmals herunterkommen lassen, das ist wohl wahr und Gott sei es geklagt. Aber Gott entschwindet deshalb nicht beleidigt in irgendein Wolkenkuckucksheim. Gott ist ganz anders als wir denken. Er will mit uns unser Leben teilen. Er schickt uns Rettung.

Ein Mann war unterwegs, um seine Mutter zu besuchen. Sie war bettlägerig und lebte allein in einem Haus außerhalb des Ortes. Er bog um die Ecke und traute seinen Augen nicht: er sah das ganze Haus in Flammen stehen. Sofort rief er die Feuerwehr. Schnell war ihm klar: Es würde zu lange dauern, bis die Feuerwehr eintreffen würde. Seine Mutter würde nicht überleben. Er hielt sich sein Taschentuch vors Gesicht und rannte ins Haus. Er hob sie aus ihrem Bett und trug sie vors Haus. Beide waren völlig entkräftet, aber die Mutter lebte. Etwa acht Minuten später traf die Feuerwehr ein.

„Leben gerettet – dramatische Rettungsaktion“ war am nächsten Tag in vielen Zeitungen zu lesen. Der Retter wurde für seinen Mut gelobt, für seine Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, um die Mutter vor dem sicheren Flammentod zu bewahren. In der Zeitung im Heimatort der Mutter war ein Bild von ihr mit der Unterschrift abgedruckt: „“Sie bekam ihr Leben neu geschenkt.“

Gott schickt uns Rettung, um nicht weniger geht es an Weihnachten. Gott schickt seinen Sohn, er schenkt das Leben neu: Joh. 3, V. 16: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Liebe Gemeinde, dieser Vers ist ein Türöffner. Wie bei dem Jungen am Anfang dieser Predigt. Er öffnet uns die Tür zu Gott. Gott schenkt uns seinen Sohn und damit die ganze Fülle göttlicher Gnade und Barmherzigkeit. Jesus rettet dich und mich vor einem Leben ohne Beziehung zu Gott.

In unserer Eingangsgeschichte bekommt der Junge ein warmes Bad und gutes Essen. Das ist schon was. Wir aber bekommen bei Gott noch viel mehr: Gott begleitet uns nicht nur durch unser irdisches Leben. Er beschenkt uns mit dem ewigen Leben: „damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Ewiges Leben: viele können sich darunter nicht viel vorstellen. Und es ist ja auch schwierig: wir können zeitlich denken, aber nicht ewig. Wir können in menschlichen Maßstäben denken, aber nicht in den Maßstäben Gottes. In dem Buch der Offenbarung heißt es einmal bildhaft über das ewige Leben: „Hier wird Gott mitten unter den Menschen sein. Ja von nun an wird Gott selbst als ihr Herr in ihrer Mitte leben. Er wird alle ihre Tränen trocknen und der Tod wird keine Macht mehr haben. Leid, Angst und Schmerzen wird es nie wieder geben, denn was einmal war, ist für immer vorbei.“

Versuchen wir uns das doch mal ganz konkret vorzustellen: Zukunft, in der es kein Leid und keinen Schmerz mehr geben wird. Da werden keine Tränen mehr fließen, niemandem wird Böses widerfahren. Es wird nicht mehr gestritten und nicht mehr gestorben. Alles, was uns Angst macht, wird nicht mehr sein.

Das ist keine billige Jenseitsvertröstung, die uns hier auf Erden die Hände in den Schoß legen lässt. Wer das so versteht, ist einem Missverständnis erlegen. Christen stehen mitten in der Welt, nicht in der frommen Kuschelecke. Christen haben einen Auftrag für diese Welt, nämlich an diesem kommenden Reich schon jetzt mitzubauen.

Denn das zum Schluss, liebe Gemeinde: das ewige Leben beginnt schon hier und jetzt, heute mit Weihnachten. Es beginnt da, wo ich es mir zusagen lasse: Ich bin von Gott angenommen und geliebt. Und das, obwohl ich gar nicht immer so lebe, wie Gott sich das vorstellt mit mir. Gott liebt mich. Das Erkennungszeichen dieser Liebe Gottes ist das kleine, hilflose Kind in der Krippe. Es ist das erste und wichtigste Weihnachtsgeschenk überhaupt. Es ist ein Geschenk Gottes an mich. Und es ist der größte Liebesbeweis überhaupt: Gott schenkt das Beste, was er hat: seinen einzigen Sohn. Das Kind in der Krippe ist Gottes Liebesbeweis für dich und mich. Wenn ich mir diese Liebe Gottes sagen lasse, dann wird bereits ein Stück von Gottes neuer Welt an mir verwirklicht.

Klar, sehen kann ich von diesem Neuen manchmal noch recht wenig. Viel zu oft muss ich von mir enttäuscht sein. Aber wenn ich mir sagen lasse und dies über mich gelten lasse, dass ich bei Gott angenommen bin, dann darf ich auch wissen, dass er – Gott - mich bereits mit ganz anderen Augen ansieht. Gott sieht mich dann bereits so, wie ich in seinem Reich einmal sein werde. Und das ist doch das Entscheidende: wie Gott mich sieht. Wie ich mich selbst sehe, oder wie andere mich sehen, soll uns nicht egal sein, aber das Wichtigste ist, wie Gott mich sieht: jetzt schon und auch einmal wenn ich vor ihm stehe.

Bei dem Jungen am Anfang der Predigt hing schließlich Johannes 3, V. 16 über dem Bett. Das war sein Name geworden.

Liebe Gemeinde, ich lade sie ein: hängen Sie sich diesen Vers sichtbar oder auch in Ihrer Vorstellung über ihr Bett, an ihren Weihnachtsbaum oder tun sie ihn auf ihren Gabentisch. Vergessen Sie ihn nicht einfach. Eignen Sie sich ihn an. Der heruntergekommene Gott streckt uns heute Abend seine Hand entgegen. Schlagen wir doch ein und wir werden ein Weihnachten erleben, dass mehr als zweieinhalb Tage anhält.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und mir: fröhliche und gesegnete Weihnachten.

Amen.

Verfasser: Pfarrer Friedemann Wenzke, Dr. Martin Luther Str. 18, 95445 Bayreuth, Tel: 0921/41168